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Am 3. Oktober 1990 feierte Deutschland im endlich nicht mehr geteilten Berlin die staatliche Einheit.

© Yorck Maecke/GAFF/laif

Bilanz von 30 Jahren Deutscher Einheit: Was sich aus dem rasanten Umbruch lernen lässt

Die Einheit war ein Geschenk, doch ging sie für viele zu schnell. Zu lernen ist: Geschichte muss neu erzählt werden. Und: Europa ist mehr als der Westen. Ein Essay.

Ein Essay von Robert Ide

Es war nicht alles schlecht. Auch nicht an der deutschen Einheit. Denn weltpolitisch ist sie nach wie vor ein Wunder und ein wunderbares Geschenk. Ein historisches Momentum für ein Land, das nach dem Krieg in zwei Staaten halbiert wurde und mit der friedlichen Revolution auf den Straßen von Ost-Berlin und Ostdeutschland die einmalige Chance bekam, wieder zueinanderzufinden.

30 Jahre später findet noch nicht jede und jeder alles gelungen, sind soziale, politische und emotionale Unterschiede erkennbar, spürbar. Spuren der Teilung und der hastigen Vereinigung finden sich weniger auf den sanierten Plätzen der Städte und Dörfer als vielmehr in den Köpfen und Herzen der Menschen, die über ihre Geschichte nicht einfach hinweglaufen können und wollen. Und wie wäre das: wenn das vereinte Land Ost und West als Bereicherung einer immer vielfältigeren Gesellschaft ansieht? Wie Nord und Süd auch.

Die deutsche Einheit brauchte nach dem Mauerfall weniger als ein Jahr, um am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag im endlich wieder ungeteilten Berlin besiegelt zu werden. Die Partylaune war damals schon gedämpft; Markstein der kollektiven Erinnerung bleibt bis heute der Wahnsinn des Mauerfalls. Zwischen beiden historischen Momenten lagen 328 rasante Tage, die den Menschen den Atem verschlugen, sie mitrissen in ein neues Leben.

Risse sind noch immer spürbar

Der Umbruch umtoste diejenigen, die ihn mit ihrem Mut gerade erst möglich gemacht hatten. Die Zeit überholte sich selbst, sie ließ in Ostdeutschland kaum einen Stein auf dem anderen und entließ Hunderttausende in die Arbeitslosigkeit. Nicht jede und jeder konnte darin einen Aufbruch erkennen – auch wenn es drei Jahrzehnte später fast allen besser geht als im Damals davor.

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Die Risse, die der Umbruch in Biografien und auch in die Erinnerungen an ihn geschlagen hat, sind spürbar, wenn man drüber spricht. Wenn man danach fragt. Noch immer geschieht das zu wenig – auch in der ostdeutschen Öffentlichkeit, in der die DDR als Referenzraum eigener Identität erst mit dem Untergang richtig auferstanden ist. Aus der Erinnerung an die Umbrüche können alle lernen – für neue Zeiten, die sich ebenfalls rasend verändern, in digitaler Geschwindigkeit. Auch die Aufarbeitung der DDR-Geschichte muss sich wandeln; sie muss im öffentlichen Raum und im Schulunterricht unsere noch nahe Geschichte haptisch erlebbarer machen, damit sie nicht in die Ferne rückt. Und damit die Opfer der Diktatur nie vergessen werden.

Das Einheitsjahr wirkt fast vergessen

War nicht alles schlecht, auch nicht in der DDR? Christian Dertinger, Sohn des später inhaftierten ersten Außenministers Georg Dertinger und danach unter anderem Namen zwangsweise in einer SED-Pflegefamilie aufgewachsen, sagte dazu beim Jahrestreffen der DDR-Opferverbände in Bautzen treffend: „Im Umkehrschluss war also vieles nicht gut.“ Bei allen Wendewunden: In der Erinnerung an den real existierenden Sozialismus darf Deutschland nicht vergesslich werden.

Wie fast vergessen wirkt das verhuschte Einheitsjahr 1990 – und hallt doch nach, wenn wieder neu über die Privatisierungspolitik der Treuhand gestritten wird und noch immer daran erinnert werden muss, dass Ostdeutsche zu wenig in den Eliten der neuen Bundesrepublik vertreten sind.

Hätte also die Einheit langsamer vonstattengehen sollen, damit aus Überforderung und auch Verzweiflung nicht Wut wird, die sich heute allzu oft im Dumpfnationalen sammelt? Geschichtlich gesehen muss man inzwischen einsehen: Eine behutsamere Vereinigung wäre menschlich nötig gewesen, war aber zumindest zeitlich kaum möglich.

Gorbatschows Macht bröckelt

In der Sowjetunion bröckelte damals die Macht von Staatschef und Reformer Michail Gorbatschow. Und Ostdeutschland selbst hatte den schnellen Weg des Beitritts gewählt – auch weil nach dem Mauerfall der Strom der Menschen nicht abriss, die rübermachten ins benachbarte Deutschland. Bis heute prägt diese Abwanderung – trotz vieler in ihre Heimat zurückkehrender Kinder und Enkel des Ostens – die nicht mehr neuen Länder zwischen Ostsee und Erzgebirge. Hier hat kluge Strukturpolitik eine wichtige, demokratieerhaltende Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte. Übrigens auch tief im Westen.

In Richtung Osten zu sehen, muss das vereinte Deutschland weiter lernen.
In Richtung Osten zu sehen, muss das vereinte Deutschland weiter lernen.

© picture-alliance/ dpa

In Richtung Osten zu sehen, muss das vereinte Deutschland weiter lernen. Schon weil man dort, gar nicht weit entfernt von Berlin, sehen kann, durch welche tiefen Täler der Transformation die Menschen in Mittel- und Osteuropa gehen mussten und zum Teil noch gehen müssen.

Deutschland ist europäisch zu definieren

Dies zu erkennen, kann und sollte dankbar machen für eine Einheit, die Deutschland auch immer europäisch definieren muss. Der ratlose Umgang mit Russland, das nicht sehr ausgeprägte Interesse an Polen, die schwache Hilfe für die Opposition in Belarus – all das sind Alarmzeichen für ein Land, das in der Mitte Europas seine Mitte gefunden hat, aber manchmal zu sehr in Richtung Westen schaut. So treffen sich Blicke nicht.

Das Leben ist vielfältig. Deutschland ist es auch längst. Ost und West sind eine Bereicherung 30 Jahre später. Und wir sollten neugierig bleiben: Spuren des alten Lebens im neuen finden sich in den Menschen und ihren Geschichten, ihren persönlichen Umbrüchen, Aufbrüchen und Brüchen.

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