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Fast 20 Jahre lang hatten die Bundeswehr und andere Soldaten aus dem Westen in Afghanistan gekämpft, nach dem Fall Kabuls zogen die letzten von ihnen schnell ab.

© David Furst/AFP

Bilanz eines gescheiterten Einsatzes: Der schmerzhafte Blick zurück nach Afghanistan

Der Bundestag setzt einen Untersuchungsausschuss und eine Enquetekommission ein. Sie sollen Verantwortungen klären und Lehren für die Zukunft erarbeiten.

Von Hans Monath

Es war der außen- und sicherheitspolitische Schock vor dem ganz großen 
Ukraine-Schock, den damals nur wenige kommen sahen: Als die Taliban Mitte August 2021 innerhalb von Stunden Kabul eroberten, begann ein schnell improvisierter, teils völlig chaotischer Abzug westlicher Nationen und ihrer Helfer aus der afghanischen Hauptstadt. Dass der ökonomisch weit überlegene Westen von einem Tag auf den anderen vor den radikalislamischen, rückständigen Taliban kapitulieren musste, erinnerte Beobachter an die Niederlage der USA im Vietnamkrieg und wurde von vielen als weltpolitisches Menetekel gedeutet.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine am 24. Februar hat die Tragödie am Hindukusch schlagartig in den Hintergrund gerückt. Seither dominieren nicht mehr Nachrichten über Millionen von Hunger leidenden Afghanen oder das Schicksal noch immer nicht evakuierter deutscher Ortskräfte die Schlagzeilen, sondern der Stand der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Frontverlauf im Donbass.

Doch an diesem Donnerstagabend kehrt Afghanistan zurück in die deutsche Politik.  Denn der Bundestag will zu dem Thema einen Untersuchungsausschuss (U-Ausschuss) einsetzen, einen Tag später eine Enquetekommission. Auf das schärfste Instrument des Parlaments, den U-Ausschuss, hatten in den Verhandlungen zur Ampelkoalition die früheren Oppositionsparteien Grüne und FDP gedrungen, während die SPD sich schon vor der Bundestagswahl für eine Enquetekommission Afghanistan ausgesprochen hatten. Nach einer dem Krieg Russlands gegen die Ukraine geschuldeten Verzögerung wird nun ein Versprechen eingelöst, das im Koalitionsvertrag festgeschrieben worden war.

Nach dem Fall Kabuls startete die Bundeswehr vom Flughafen Kabul aus eine gefährliche Evakuierungsmission.
Nach dem Fall Kabuls startete die Bundeswehr vom Flughafen Kabul aus eine gefährliche Evakuierungsmission.

© StFw Schueller / Bundeswehr

Vor zehn Monaten schaute die Republik gebannt auf die Fernsehbilder vom zunächst völlig unkontrollierten Ansturm völlig verzweifelter, ausreisewilliger Afghanen auf den Flughafen in Kabul, die der Rache der Taliban entkommen wollten. Drinnen sicherten Soldaten der US-Marines hinter Betonwällen den Abflug der letzten westlichen Maschinen. Auch die Bundeswehr schickte eine eigene Evakuierungsmission, um das Auswärtige Amt bei seinen Bemühungen zu unterstützen, Deutsche, Angehörige anderer Nationen sowie Ortskräfte in Sicherheit zu bringen. Mit Transportflugzeugen wurden 5.347 Personen aus mindestens 45 Nationen ausgeflogen.

Schnell stellte sich aber im vergangenen Jahr auch die Frage nach der politischen Verantwortung für das Desaster. Die Grünen warfen dem damaligen Außenminister Heiko Maas (SPD) Versagen vor und forderten ihn zum Rücktritt auf. Dem Sozialdemokraten in der Chefetage des Auswärtigen Amts war bewusst, wie tief er im Schlamassel steckte. Er selbst bot dem damaligen Vizekanzler Olaf Scholz (ebenfalls SPD) seinen Rücktritt an, wie er später erklärte. Doch der lehnte ab.

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Zwei erst im Herbst in den Bundestag eingezogene Sozialdemokraten werden die neuen Gremien leiten, weil nach den Parlamentsregeln die SPD-Fraktion am Zug ist: Ralf Stegner, lange Landes- und Fraktionschef in Schleswig-Holstein, wird Vorsitzender des U-Ausschusses; Michael Müller, bis 2021 Regierender Bürgermeister in Berlin, der Enquetekommission. Beide Gremien haben unterschiedliche Ziele.

In der Enquetekommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“, in der auch Wissenschaftler mitarbeiten, soll es vor allem um eine bessere Aufstellung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gehen.

Dagegen soll der U-Ausschuss unter anderem klären, warum die Evakuierung aus Afghanistan so überstürzt lief. „Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht für eine transparente Aufklärung zu sorgen“, sagt der designierte Vorsitzende Stegner.

Er bot seinen Rücktritt an, nachdem ihn die Opposition hart attackiert hatte: Außenminister Heiko Maas (SPD).
Er bot seinen Rücktritt an, nachdem ihn die Opposition hart attackiert hatte: Außenminister Heiko Maas (SPD).

© Florian Gaertner/imago images/photothek

Das Gremium will erforschen, was die Bundesregierung, die Bundeswehr, die Nachrichtendienste und die Bundespolizei vor, während und kurz nach dem Abzug der letzten deutschen Soldaten und Diplomaten entschieden und getan haben - auch, wer damals für einzelne Entscheidungen die Verantwortung trug. Konkret geht es darum, durch die Sichtung von Dokumenten und die Befragung von Zeugen herauszufinden, wer wann welche Entscheidungen traf, zum Beispiel zur Räumung der Botschaft oder zum Schutz lokaler Mitarbeiter der Bundeswehr.

Um möglichst viele Perspektiven abzubilden, wird auch überlegt, ehemalige afghanische Mitarbeiter deutscher Institutionen, also Ortskräfte, zu befragen. Anfang Juni warteten nach Angaben der Bundesregierung noch fast 12.000 Afghaninnen und Afghanen, die eine Aufnahmezusage aus Deutschland haben, auf eine Evakuierung.

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Neben den Koalitionsfraktionen stehen auch CDU und CSU hinter U-Ausschuss und Enquetekommission. Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) erklärte, die Vorgänge müssten kritisch und ohne Ansicht von Personen, Ämtern und Parteizugehörigkeiten aufgearbeitet werden. „Das schulden wir insbesondere den Menschen, die wir dort in diesen Einsatz hineingeschickt haben.“

Der Ausschuss untersucht einen Zeitraum, der mit dem 29. Februar 2020 beginnt. An diesem Tag hatte die US-Regierung mit den Taliban das Doha-Abkommen unterzeichnet. Die Islamisten verpflichteten sich im Gegenzug für den Abzug der US-Truppen unter anderem zu Friedensgesprächen mit der afghanischen Regierung und zur Beteiligung an einer „inklusiven“ Regierung. Doch sie bereiteten weiter den Umsturz weiter vor und waren erfolgreich.

Schlusspunkt der Untersuchung soll der 30. September 2021 sein - ein Monat, nachdem die letzten US-Soldaten Kabul verließen. Nach Angaben aus Koalitionskreisen hatte die Union den Zeitraum bis in die Gegenwart ausdehnen wollen, um so etwa auch Kanzler Scholz oder Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in den Zeugenstand zitieren zu können. Die Ampel-Mehrheit blockte das ab.

2001 wollte der Westen sie vertreiben, 20 Jahre später sind die Taliban in Kabul und Afghanistan wieder an der Macht.
2001 wollte der Westen sie vertreiben, 20 Jahre später sind die Taliban in Kabul und Afghanistan wieder an der Macht.

© Wakil KOHSAR /AFP

Die Bundeswehr war nach fast 20 Jahren schon Wochen vor dem Fall Kabuls, nämlich Ende Juni 2021 aus dem Land abgezogen. 59 deutsche Soldaten ließen dort ihr Leben, davon fielen 35 durch Fremdeinwirkung. Der Einsatz der Bundeswehr kostete insgesamt rund 12 Milliarden Euro. Darin nicht eingerechnet sind Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit.

U-Ausschüsse sind häufig auch politische Kampfinstrumente, um amtierende Politikern Fehler nachzuweisen, die deren Karriere gefährden können. In diesem Fall gibt es eine Besonderheit: Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Heiko Maas (Außenministerium), Annegret Kramp-Karrenbauer (Verteidigung), Horst Seehofer (Innen) und Gerd Müller (Entwicklung) haben ihre Posten längst verloren.

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Der designierte Obmann der Grünen im Ausschuss, Robin Wagener, fühlt sich dadurch nicht entmutigt: „Dass alle damals verantwortlichen Minister*innen nicht mehr im Amt sind, kann eventuell von Vorteil sein“, meint er: „Sie müssen keine Rücktrittsforderungen mehr fürchten und können daher mit weniger politischem Druck zur Aufklärung beitragen."

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