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Kandidat in Pandemiezeiten. Joe Biden sei geprägt durch seine Schickalsschläge und damit empfindlich für die Schmerzen der Amerikaner, sagt sein Biograf.

© Drew Angerer/Getty Images/AFP

Biden-Biograf im Interview: „Joe Biden versteht das Leid der Amerikaner“

Der US-Journalist Evan Osnos über Stärken und Schwächen des demokratischen Präsidentschaftskandidaten - und seine Prognose für den Ausgang der Wahl.

Evan Osnos (43) schreibt für das US-Magazin „The New Yorker“. Seine Biografie „Joe Biden. Ein Porträt“ erscheint an diesem Mittwoch auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag.

Herr Osnos, Sie haben Joe Biden die vergangenen Jahre beobachtet. Wäre er fit genug für eine vierjährige Präsidentschaft?

Klar, Joe Biden ist 77, nicht 37. Und er ist ein bisschen dünner und langsamer als zu der Zeit vor ein paar Jahren, als ich begonnen habe, ihn zu interviewen. Aber sein Verstand ist unverändert. Wenn wir 2020 irgendetwas gelernt haben, dann, dass wir in Gesundheitsfragen auf Ärzte, nicht auf Politiker hören sollten. Und in dieser Angelegenheit sind die Ärzte eindeutig: Bidens jüngstem Gesundheitstest zufolge ist er für sein Alter kräftig und gesund. Ich kann das nur bestätigen.

Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten überrascht?

Dass er in einer Zeit, in der wir alle stark auf die politischen Auswirkungen der sozialen Medien fokussiert sind, diese fast komplett ignoriert hat. Viele glaubten, dass er die parteiinternen Vorwahlen auf keinen Fall gewinnen könne, weil andere Kandidaten seiner Partei auf Twitter und Facebook viel beliebter waren.

Was sagt Ihnen das?

Biden und seine Berater waren davon überzeugt, dass die Demokratische Partei nicht die ist, die sich in diesen Medien darstellt, sondern stärker in der Mitte verortet, konservativer. Sie hatten recht.

Was haben Sie noch gelernt?

Biden ist inzwischen deutlich williger, Fehler einzugestehen. Eine Eigenschaft, die hier in Washington nicht besonders weit verbreitet ist. Wir kennen Biden als aufbrausend und manchmal überselbstbewusst. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man einen Mann, der durch die vielen Prüfungen in seinem Leben geprägt und inzwischen reflektierter und empfindsamer ist, auch mit Blick auf eigene Positionen.

Er hat in frühen Jahren seine erste Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verloren, vor fünf Jahren ist sein Sohn Beau an einem Gehirntumor gestorben. Haben die Schicksalsschläge ihn zu einem besseren Politiker gemacht?

Mein Fazit hat mich selbst überrascht: Dieser Mann, älter als die meisten politischen Figuren in Amerika, ist nicht der hippste, dynamischste Kandidat. Gleichwohl ist er außerordentlich gut für diesen Moment vorbereitet. Sein persönliches Leiden macht ihn besonders empfänglich für die Schmerzen, die die Amerikaner gerade durchmachen. Immerhin sprechen wir von einem Land, das sich gerade in einem Trauerzustand befindet – nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen all der strukturellen Probleme. Das schreit geradezu nach einem politischen Anführer, der weiß, wie es ist, falschzuliegen und es dann richtig machen zu wollen.

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Biden spricht davon, das Land heilen und wieder zusammenbringen zu wollen. Will das Land das überhaupt?

Das ist die Hundert-Millionen-Dollar-Frage. Manchmal wirkt es so, als ob er in seiner Fantasiewelt lebt, wenn er davon träumt, das Land einen zu können. Aber er hat recht bei einem wichtigen Punkt: dass es abseits der besonders polarisierenden Fragen Themen gibt, mit denen sich Wahlen gewinnen lassen. Also zum Beispiel die Hoffnung, dass der amerikanische Traum weiterlebt, oder die Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten ein moralischer Anführer in der Welt bleiben – beides hat sehr gelitten. Biden will, dass die Amerikaner wieder anders über sich denken, dass sie besser sind, als es sich derzeit darstellt. Dass sie zusammenkommen, wie sie es in Krisenzeiten meist getan haben. Vielleicht lebt er aber auch in einer Welt, die es nicht mehr gibt.

Der Journalist Evan Osnos.
Der Journalist Evan Osnos.

© Pete Marovich

Dann wäre er naiv?

Er hat sich inzwischen widerwillig eingestanden, dass die amerikanische Gesellschaft gespalten ist. Er mag das nicht, denn immerhin saß er zu einer Zeit im Senat, in der Polarisierung in diesem Gremium noch sehr selten war. Aber er ist politisch nicht so weit gekommen, weil er naiv ist. Sondern weil er im Kern ein effektiver Politikmanager ist. Wenn das mit dem Zusammenbringen nicht funktioniert, dann ist er zu strukturellen Veränderungen bereit – auch wenn er vor der Wahl nicht darüber sprechen will. Er weiß, dass zum Beispiel das Wahlrechtsgesetz von 1965, das die gleiche Beteiligung von Minderheiten bei Wahlen gewährleisten soll, wieder voll aktiviert werden müsste. Und dass der Wahltag ein Feiertag sein sollte. Als ich mit Barack Obama über mein Buch sprach, hat auch er eingestanden, dass er vergeblich auf mehr Einheit gesetzt hatte. Als er dies akzeptiert hatte, begann er, sich für solche strukturellen Reformen einzusetzen.

Biden ist nicht ideologisch, sondern pragmatisch. Sie argumentieren, das könnte ihn zu einem besseren Reformer machen.

Ja. Weil Biden ein Pragmatiker ist, kann er flexibler vorgehen, um Kompromisse und damit ein Ergebnis zu erzielen. Obama galt zwar ein Zentrist, aber da er auch der erste schwarze Präsident war, stand er für progressiven Fortschritt und Wandel. Das weckte bei manchen Leuten Widerstände, leider eben auch, weil er schwarz war. Biden ist eine eher altmodische politische Figur, er stößt weniger auf Ablehnung. Und beim Blick auf die amerikanische Geschichte sehen Sie: Es waren oft nicht die progressivsten Präsidenten, die die größten Fortschritte erzielten.

Die Trump-Kampagne scheint ihren Plan, Biden als „Trojanisches Pferd der radikalen Linken“ darzustellen, aufgegeben zu haben. Weil es nicht geklappt hat?

Offenbar haben sie erkannt, dass sie nicht gleichzeitig sagen können: Er ist eine Marionette der radikalen Linken und ein müder alter Mann ohne Ideen. Im Übrigen war beides wenig überzeugend, das zeigen auch die Umfragen. Biden sah und sieht sich teilweise immer noch fast stärkerer Kritik von linken Demokraten als von Republikanern ausgesetzt.

Derzeit wirkt die Partei aber geschlossen.

Biden hat Jahre damit verbracht, Beziehungen aufzubauen. Zum Beispiel mit Leuten wie Bernie Sanders. Das zahlt sich aus. Sanders hat ganz offen gesagt, dass er sich eher auf Bidens Seite stellen konnte als auf Hillary Clintons vor vier Jahren, weil er mit ihm besser zurechtkomme. Und weil Biden und seine Berater sich offen für seine Ideen zeigten. Das ist der Schlüssel zu politischem Erfolg: die Fähigkeit, Menschen mit anderen Meinungen davon zu überzeugen, dass du ihre Anliegen ernst nimmst. Das ist einer von Bidens großen Vorteilen.

Nach der letzten TV-Debatte äußerten sich manche Beobachter überrascht, wie agil und souverän Biden wirkte. Haben die ihn unterschätzt?

Ja. Ich glaube, dass man Biden nicht verstehen kann, wenn man nicht das Ausmaß des Schmerzes sieht, den er in seinem Leben aushalten musste. Im Privaten sagt er manchmal, wenn er diese Wahl verliere, komme er darüber hinweg: weil er Schlimmeres erlebt habe.

Wagen Sie einen Tipp: Wird er gewinnen?

Ich glaube sogar, sein Sieg wird deutlich höher ausfallen und damit früher feststehen, als viele denken.

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