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Tanks mit kontaminiertem Kühlwasser auf dem Gelände des Atomkraftwerks Fukushima in Japan.

© AFP/Philip Fong

BfS-Chefin Inge Paulini: „Es wäre besser, wenn gar keine Kernkraftwerke mehr in Europa liefen“

Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz, über die Gefahren der Atomkraft, Vorsorge für den Katastrophenfall und 190 Millionen Jodtabletten.

Frau Paulini, als Sie Bilder aus Fukushima sahen, die Explosionen, dachten Sie da: Das war‘s mit der Atomkraft in Deutschland? 

Damals saß ich im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen. Wir arbeiteten an der Transformation hin zu einer klimaverträglichen nachhaltigen Gesellschaft, und empfahlen den Umbau der Energiesysteme ohne Kernkraft. Als es in Fukushima zur Kernschmelze kam, bestätigte das, wie richtig ein Ausstieg aus der Kernenergie wäre. Wie schnell es gehen würde und dass die Politik diese Empfehlung noch im selben Jahr aufgreifen würde, war damals nicht absehbar.

Die Bundesregierung beschloss Anfang Juni 2011, nur neun Monate nach der Laufzeitverlängerung eine stufenweise Abschaltung aller Atomkraftwerke bis 2022. 

Fukushima war für uns alle ein Schock. Schließlich bestand die Erwartung, dass so etwas in einem Land wie Deutschland oder eben auch Japan nicht passieren könne. Die Ereignisse zeigten uns, wie hochgradig riskant diese Technik ist – auch in Hochindustrieländern.

Sie selbst haben Ernährungswissenschaften studiert und mit einer Arbeit über Lungenschäden nach der Inhalation von Kadmiumverbindungen promoviert – kein direkter Weg, um Deutschlands oberste Strahlenschützerin zu werden.  

Bei Kadmium in der Lunge ging es um die Wirkungen von Luftverunreinigungen. Ich habe später viele Jahre im Umweltbundesamt an der Risikobewertung von  Innenraumluftverunreinigungen gearbeitet, ebenso zur Regulierung von Chemikalien. Und auch heute geht es in meiner Arbeit um die Erforschung und Bewertung von Risiken für den Menschen und die Frage, wie wir die Bevölkerung schützen können.   

Wenn Sie sich in Ihrem jetzigen Job so intensiv mit den Risiken von unsichtbarer Strahlung beschäftigen: Wird man quasi automatisch zur Atomkraftgegnerin? 

Es gibt sehr viele gute Gründe, aus der Kernkraft auszusteigen – das sehe ich so. Risiken lassen sich auf Grundlage der Wissenschaft, der Qualität von Daten und Studien, betrachten. Aber da sind auch Bewertungsfragen – und deren Portfolio ist breit. Gerade bei der Kernkraft geht es ja nicht nur um gesundheitliche Risiken. Große gesellschaftliche Fragen sind mit ihr verbunden. Ich halte es für richtig, dass die Bundesrepublik aus der Kernenergie aussteigt.  

Haben Sie eigentlich einen Geigerzähler zuhause?  

Nein, ich verlasse mich auf das Bundesamt für Strahlenschutz. Wir sind ja zuständig für den Schutz der Bevölkerung in radiologischen Notfällen.

Inge Paulini die Präsidentin des Bundesamt für Strahlenschutz.
Inge Paulini die Präsidentin des Bundesamt für Strahlenschutz.

© Imago images/Political-Moments

Auf die Corona-Pandemie war Deutschland schlecht vorbereitet. Die entsprechende Risikoanalyse von 2012 wurde kaum beachtet. Sind wir für den radiologischen Ernstfall besser gewappnet?  

Fukushima war für uns ein Einschnitt. Die Pläne des Bundes für einen möglichen nuklearen Unfall wurden grundlegend überarbeitet. Die Maßgabe war, die Bevölkerung im Notfall besser zu schützen. Wir rechneten das volle Spektrum an Szenarien durch. Der Radius um Kernkraftwerke, für die Notfall-Schutzmaßnahmen vorgeplant sind, wurde auf 100 Kilometer vergrößert. Wir haben außerdem größere Vorräte an Jodtabletten angelegt, die Bestände wurden auf 189,5 Millionen Tabletten aufgestockt. Vor kurzem wurde das radiologische Lagezentrum eingerichtet, in dem alle zentralen Akteure in einem Notfall unter Leitung des Bundesumweltministeriums zusammenkommen. Dort wird die Situation laufend analysiert und Entscheidungen werden vorbereitet.

Wie würden die Jodtabletten denn im Fall einer Reaktorkatastrophe verteilt?

In einem Umkreis von bis zu 100 Kilometern um das Kernkraftwerk würde die Bevölkerung bis zum Alter von 45 Jahren Jodtabletten erhalten, um die Anreicherung von radioaktivem Jod in der Schilddrüse zu blockieren. Kinder, Jugendliche unter 18 Jahren und Schwangere würden bundesweit die Tabletten erhalten. Für Personen über 45 Jahren wird von der Einnahme von hochdosierten Jodtabletten abgeraten.

In Aachen wurden Jodtabletten schon an die Bevölkerung ausgegeben wegen der grenznahen Meiler, die als pannenanfällig gelten…

Es sind immer die lokalen Behörden, die entscheiden, ob schon präventiv Tabletten verteilt werden. Der Bund ist zuständig dafür, dass die übergeordneten Abläufe funktionieren. So haben wir gerade erst überprüft, wie zum Beispiel der Notfallschutz bei einer Reaktorkatastrophe in Kombination mit einer Pandemie funktionieren kann.

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Liefe eine Evakuierung dann anders ab, weil man gleichzeitig Abstands- und Hygieneregeln beachten müsste?

Evakuierungen führen die Katastrophenschutzbehörden durch, nicht das BfS. Für uns entscheidend ist,  ob wir auch unter Corona-Bedingungen ein Lagebild erstellen könnten und handlungsfähig wären: Könnten wir alle Leute, die wir in so einer Situation brauchen, im radiologischen Lagezentrum zusammen holen? Könnten wir mit den Landesbehörden und mit unseren Messstellen zusammenarbeiten? Wir sind zum Ergebnis gekommen, dass das klappt. Eine Massenevakuierung haben wir noch nicht im Einzelnen ausgerechnet. Aber ich bin sicher: Auch für eine solche Situation sind wir gewappnet.

Zahlreiche Nachbarstaaten halten an der Atomkraft fest, einige wie Frankreich und Belgien mit teils Jahrzehnte alten Reaktoren. Andere Länder, wie Polen, steigen erst ein…

Auch den grenzübergreifenden Notfallschutz haben wir ausgebaut. Dabei schauen wir auf alle potenziellen Gefahrenquellen, unter anderem alle Kernkraftwerke, die betrieben werden oder noch ans Netz gehen. Mit einigen Ländern, wie Frankreich oder der Schweiz, haben wir gemeinsame Kommissionen eingerichtet.  

Welche Anlagen machen Ihnen am meisten Sorge?  

Alle, die noch laufen. Wir bereiten uns aber insbesondere auf Unfälle in grenznahen Kernanlagen vor, da Unfälle dort die größten Auswirkungen auf Deutschland haben könnten. Aus Sicht des Strahlenschutzes gilt: Es wäre besser, wenn gar keine Kernkraftwerke mehr in Europa liefen – weil es ohne sie sicherer ist. Fukushima lehrt uns, dass es keine  Sicherheitsgarantie gibt. Je mehr Kraftwerke betrieben werden, desto höher ist auch das Risiko, dem wir ausgesetzt sind.

Zahlreiche europäische Atomkraftwerke, wie das französische AKW Cattenom nahe der deutschen Grenze, laufen noch viele Jahre.
Zahlreiche europäische Atomkraftwerke, wie das französische AKW Cattenom nahe der deutschen Grenze, laufen noch viele Jahre.

© dpa/Christophe Karaba

Das heißt, wir müssen jederzeit damit rechnen, dass so eine Katastrophe passieren könnte.

Wichtig ist, dass wir vorbereitet sind. Fukushima hat uns wachgerüttelt, dass so eine Katastrophe passieren kann.

Das Bundesamt für Strahlenschutz hat die japanischen Behörden in den letzten zehn Jahren bei der Aufarbeitung zu Fukushima unterstützt. Was waren die größten Fehler?

Das Problem war die Verkettung mit dem Erdbeben und dem Tsunami. Zum Glück wurde ein großer Teil der Emissionen durch den Wind auf den Pazifischen Ozean und nicht aufs Land getrieben. Es ist damals gelungen, die Bevölkerung zu evakuieren, das waren 160.000 Menschen. Sie wussten nicht, wie es weitergeht oder ob sie jemals würden zurückkehren können. Bis heute gibt es eine Sperrzone, die nicht betreten werden darf. Die ist 340 Quadratkilometer groß, das entspricht der Fläche der Stadt München.

Und wie sieht die Belastung außerhalb der Sperrzone aus?

Es ist viel Arbeit in Dekontaminationen gesteckt worden. Die Region Fukushima außerhalb der Sperrzone ist jetzt wieder bewohnbar, die Strahlenbelastung ist nur wenig höher als in Deutschland. Wir sehen es nicht als riskant an, dort zu leben.

Wenn die Olympischen Spiele in diesem Jahr in Tokio stattfinden sollten, wäre es für Touristen also kein Problem, einen Abstecher nach Fukushima zu machen?

Bei einem Aufenthalt von einer Woche entspricht die Strahlenbelastung der eines Fluges von Frankfurt nach Tokio.

Als oberste Strahlenschützerin sind Sie nicht nur für radioaktive Belastungen im Fall von Atomkatastrophen zuständig. Welche Strahlungsgefahren werden unterschätzt?

Radon. Das ist ein radioaktives Gas, das aus den Gesteinen austritt und sich unbemerkt in unseren Kellern und Häusern ansammelt. Wenn man über Jahre Radon in höheren Konzentrationen einatmet, kann das zu Lungenkrebs führen. Die Bundesländer haben gerade Vorsorgegebiete ausgewiesen, Arbeitgeber müssen dort die Werte messen und gegebenenfalls Maßnahmen zur Senkung dieser Werte einleiten. Besonders häufig kommt Radon in Mittelgebirgsregionen vor. Aber es kann auch anderswo aus dem Boden austreten. Wie hoch die Konzentration im eigenen Haus ist, kann man nur durch Messungen überprüfen.

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