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Gut zuhören: Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden in der Grace Lutheran Church in Kenosha/Wisconsin.

© Carolyn Kaster/AP/dpa

„Bevor er hierher kam, hat er zuerst sein Herz gesandt“: Biden will den Schmerz von Kenosha spüren

Kurz nach Trump reist sein Herausforderer als Kontrast nach Kenosha. Einfühlsam will er als Zuhörer die Wahl gewinnen – und besucht die Familie von Jacob Blake.

Bei dieser Frage muss die junge Frau erstmals kurz überlegen. „Was dieses Mal anders ist?“, wiederholt Porche Bennett. Dann grinst sie ein bisschen, ihr ist eine gute Antwort eingefallen: „Sie hören uns offenbar endlich zu!“

Die schlanke Afroamerikanerin steht am Donnerstagmittag am Rand des Civic Center Park im Stadtzentrum von Kenosha. Neben ihr haben sich andere „Black Lives Matter“-Aktivisten aufgebaut - darunter auch ein aus Minneapolis angereister Neffe von George Floyd, jenem Schwarzen, den ein auf ihm kniender Polizist im Mai erstickte und wegen dessen Tod seitdem in vielen amerikanischen Städten gegen Rassismus demonstriert wird.

Aber Porche Bennett zieht die meiste Aufmerksamkeit auf sich – und das liegt nicht nur an ihrem auffällig bedruckten „Dolce & Gabbana“-Kleid und dem leuchtend orangefarbenen Turban. Es liegt auch daran, dass die 31-Jährige so eindringlich zu ihren Zuhörern spricht.

Eine Stunde später lauscht ein Mann aufmerksam ihren Worten, der mit dem Versprechen in die viertgrößte Stadt Wisconsins gekommen ist, besonders aufmerksam zuzuhören. Joe Biden, der demokratische Präsidentschaftskandidat und ehemalige Vizepräsident, sitzt im Mittelgang der Grace Lutheran Church in Kenosha, um von ausgewählten Bürgern der Stadt zu hören, warum es hier in der vergangenen Woche zu solch schweren Unruhen gekommen ist – und was getan werden muss, damit sich so etwas nicht wiederholt.

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Joe Biden trägt - anders als Donald Trump - stets eine Maske

Eine Stunde lang hört er einfach nur zu und macht sich auf einem gefalteten Zettel Notizen. Es sprechen Kommunalpolitiker, Polizisten, Geschäftsinhaber, Geistliche und Aktivisten. Dann erst spricht Biden in dem Corona-bedingt sparsam besetzten Kirchenraum – selbstverständlich mit Maske.

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Es hat ein bisschen gedauert, bis Biden diesen Besuch umgesetzt hat. Zum einen, weil der 77-Jährige wegen der Pandemie bisher fast nur virtuell wahlkämpft, zum anderen, weil er sich der aufgewühlten Stadt nicht aufzwingen wollte, so heißt es zumindest. Kritisiert wurde er dennoch für sein Zögern, auch aus den eigenen Reihen - zwei Monate vor der Wahl und angesichts von volatilen Umfrageergebnissen liegen die Nerven bei den Wahlkämpfern blank.

Bevor er am Morgen nun endlich zusammen mit seiner Frau Jill in den Flieger gestiegen ist, hat sein Wahlkampfteam einen neuen Werbespot veröffentlicht, der vor allem in „Battleground States“ wie Wisconsin gezeigt werden soll. Auch hier lautet die Hauptbotschaft: „Wir hören zu.“

Porche Bennett mit anderen "Black Lives Matter"-Aktivisten in Kinosha/Wisconsin.
Porche Bennett mit anderen "Black Lives Matter"-Aktivisten in Kinosha/Wisconsin.

© Juliane Schäuble

In 48 Stunden zwei Kandidaten

Alles an Bidens Besuch in Kenosha soll zeigen, wie sehr sich dieser Kandidat von dem Mann unterscheidet, der zwei Tage zuvor hier eingeflogen ist. US-Präsident Donald Trump war am Dienstag gegen den ausdrücklichen Wunsch sowohl des Gouverneurs von Wisconsin, als auch des Bürgermeisters von Kenosha (beides Demokraten) gekommen, um sich die teils schweren Zerstörungen in der Innenstadt anzuschauen, mit Firmeninhabern zu sprechen, deren Eigentum zertrümmert oder gar abgefackelt wurde, und um sich vor die Polizei zu stellen, die seit den Schüssen in den Rücken des unbewaffneten Afroamerikaners Jacob Blake vor anderthalb Wochen in der Kritik steht.

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Statt der Polizeigewalt kritisierte Trump die „radikale Linke“, die Amerikas Großstädte zerstören wolle, und die Demokraten, die sie gewähren ließen. Eine Maske trug er einmal mehr nicht - und ein Gespräch mit der Familie des 29-jährigen Blake, der wegen der sieben Schüsse von der Hüfte abwärts gelähmt ist, stand nicht auf seinem Besuchsprogramm.

Das holt Joe Biden nach. Vor seinem Auftritt in der Kirche trifft er die Eltern und andere Familienmitglieder in Milwaukee, anderthalb Stunden lang spricht er mit ihnen, Presse ist dabei nicht erlaubt. Danach erzählt er mit leiser Stimme davon, dass Jacob Blake zeitweise per Telefon aus dem Krankenhaus zugeschaltet war, und wie tapfer der 29-Jährige trotz seiner schweren Verletzungen sei: „Er sprach davon, wie er sich durch nichts besiegen lassen wird. Wie er nicht aufgeben wird, egal, ob er wieder laufen kann oder nicht.“ Und dass sie gemeinsam gebetet hätten, auch für den Polizisten, der auf Jacob Blake schoss.

„Er fühlt den Schmerz der Menschen“

Man kann sich die Szene gut vorstellen, gilt Biden, der selbst so viele Schicksalsschläge erdulden musste - er hat seine erste Frau und zwei Kinder begraben müssen -, doch als extrem einfühlsamer Zuhörer. Als viele Präsident Trump dafür kritisierten, dass er nur nach Kenosha komme, um Wahlkampf zu machen, und dass er die Spannungen in der Stadt bewusst verschärfen wolle, hat Biden seinen Besuch damit gerechtfertigt, dass er der Stadt bei ihrem Heilungsprozess helfen und die Menschen zusammenbringen wolle.

Pat Heneghan nimmt ihm das ab. Anders als Trump, dem er ein reines Wahlkampfmanöver vorwirft. Der 60-jährige Sportmanager aus Chicago ist extra angereist, um Biden seine Unterstützung zu zeigen. „Diese Wahl ist die Wichtigste seit langem. Und Joe Biden der richtige Mann fürs Weiße Haus. Er fühlt den Schmerz der Menschen: Bevor er hierher kam, hat er zuerst sein Herz gesandt.“

Zwei Monate vor der Wahl können die Amerikaner am Beispiel von Kenosha in nur 48 Stunden die Kernbotschaften der beiden Präsidentschaftskandidaten in der Praxis kennenlernen. Die von Trump lautet: Law and Order, die Bidens: Heilung und Einheit.

Wie diese Botschaften ankommen, hängt immer auch ein bisschen vom Standpunkt des Betrachters ab. Geschäftsinhaber und andere Bürger, die um ihr Eigentum und ihre Sicherheit fürchten, und Polizisten, die sich einem Rassismus-Generalverdacht ausgesetzt sehen, sind wohl eher empfänglich für Trumps Worte.

Biden wurde deutlich freundlicher empfangen

Schwarze Mütter wie Porche Bennett, die den Rassismus in ihrem Land nicht mehr ertragen, und die Furcht, ihre Söhne nicht aufwachsen zu sehen, tendieren eher zu Biden. Genauso weiße Männer wie Pat Heneghan, die den Umgang Trumps mit der Corona-Krise oder seine Mauerbau-Rhetorik unerträglich finden.

Weder Trumps noch Bidens Besuch in Kenosha ist indes ein Selbstläufer. Bei Trump hielt die Zahl der Gegendemonstranten von der Lautstärke gesehen mit seinen Fans mit. Und jüngsten Umfragen zufolge trauen mehr Menschen seinem Herausforderer zu, die Probleme mit der Polizei und der Sicherheit in den Städten in den Griff zu kriegen.

Biden wiederum, der deutlich freundlicher empfangen wurde und mit seinem demütigen Auftreten wohl bei vielen Eindruck gemacht hat, muss erst noch zeigen, dass er das Vertrauen von jungen Frauen wie Porche Bennett verdient. „Wir haben genug geweint, es reicht nicht mehr, uns nur zuzuhören. Wir wollen jetzt Taten sehen“, sagt sie vor dem Event in der Kirche. Nur daran werde sie einen Präsidenten Biden messen.

Der Demokrat spricht von der „Ursünde der Sklaverei“

In der Kirche ist sie es dann, die die eindringlichsten Worte findet. Sie habe von ihrer Gruppe schwarzer Aktivisten, sie leitet die frisch gegründete Gruppe „Black Lives Activists of Kenosha“, eine Rede mit Forderungen bekommen. Aber sie könne nicht anders, als ihre eigenen Worten zu verwenden und Biden die „Wahrheit“ ins Gesicht sagen. „Die Wahrheit ist, wir sind extrem wütend“, sagt sie, und spricht über die alltägliche Ungleichbehandlung. „Ich bin erst 31, aber selbst ich habe schon genug davon gesehen. Ich bin müde.“ Es sei nun an der Zeit, dass sie die gleichen Rechte bekämen wie alle anderen.

Biden wartet noch einen letzten Redner ab, das gibt ihm Zeit, sich seine Antwort zu überlegen. Ihm sei bewusst, sagt er dann, dass er als Weißer nie den Rassismus am eigenen Leib erlebt habe. „Ich weiß nicht, wie es ist, aus der Tür zu gehen, meinen Sohn oder meine Tochter rauszuschicken - und mir Sorgen zu machen, dass sie nicht zurückkommen könnten, nur weil sie schwarz sind“, sagt er. Intellektuell verstehen könne er es nicht. Aber: „Ich kann es fühlen.“

Die Erwartungen an ihn sind hoch. Und anders als Trump und die Republikaner, die bestreiten, dass es strukturellen Rassismus in ihrem Land gibt, verwendet Biden die Worte „Ursünde der Sklaverei“. Er verspricht, dieses Thema anzugehen, wenn er gewählt werde. „Ich denke, wir sind an einem Wendepunkt angelangt“, sagt er. Nachdem nun enthüllt worden worden sei, was in Amerika seit langem vor sich gehe, könne man entsprechend darauf reagieren. Porche Bennett wird ihn beim Wort nehmen.

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