zum Hauptinhalt
Helmut Kohl spricht am 20. Februar 1990 in Erfurt. Unsere Kolumnistin erinnert sich an diese Zeit.

© Reinhard Krause/ REUTERS

Besuche in Ost und West: Wie sich das geteilte Deutschland neu kennenlernte

Ein exotisches Gefühl bei den einen, Scham bei den anderen: Deutsch-deutsche Begegnungen kurz nach der Wende zu beobachten, war für Ausländer sehr vielsagend.

Es ist nur eine kleine Geschichte, doch sie spricht Bände. Womöglich genau so viele Bände wie die Analysen über die psychische Verfassung der Ostdeutschen, die anlässlich des dreißigsten Jahrestags des Mauerfalls gerade massenhaft erstellt werden. Eine kleine Geschichte, die ich an dieser Stelle nicht überschnell interpretieren möchte, die mir aber dieser Tage nicht aus dem Kopf geht.

Erfurt im Frühjahr 1990. Die Mauer war gerade gefallen, Deutschland noch nicht vereinigt. Eine Art spannungsgeladener Zwischenzeit in dieser Stadt, die auf mich wie ein Theaterdekor wirkte, etwas heruntergekommen, aber um so viel anziehender als die kleinen, ordentlichen und steril wirkenden Städtchen Baden-Württembergs, die ich aus meiner Kindheit im nahen Elsass kannte.

Ich hatte im Rahmen einer Reportage eine Gruppe westdeutscher Touristen begleitet. Genau, Touristen in einem Land, das wie ihr eigenes „Deutsch“ in seiner Bezeichnung enthielt. „Exotischer als Mallorca“, meinte einer der Teilnehmer beim Blick auf die bröckelnden Fassaden Erfurts aus einem voluminösen Reisebus aus Frankfurt am Main.

Es fiel mir schwer zu begreifen, dass diese Menschen, die die gleiche Sprache sprachen und so lange dieselbe Geschichte geteilt hatten, bevor sie auf brutale Weise voneinander getrennt wurden, sich als Fremde verstanden. „Ich fühle mich einem Österreicher näher als einem Ostdeutschen“, erklärte mir einer der Reisenden.

[Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel]

Ich spazierte durch die Altstadt und betrat die Werkstatt einer Töpferin. Gabriella war ihr Name. Wir sprachen lange über diese unruhigen Zeiten. Auch sie hatte einen „touristischen“ Ausflug unternommen, in die umgekehrte Richtung, von Erfurt nach Frankfurt am Main. Sie erzählte, dass ihr alles futuristisch vorgekommen war, der Luxus, die gehetzten Menschen.

Im Westen war ihr alles futuristisch vorgekommen

Eine Episode war ihr besonders in Erinnerung geblieben. In dem Restaurant, wo sie beschlossen hatte, ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld auf den Kopf zu hauen, ging sie auf die Toilette. Kein Licht. Sie tastete lange an der Wand. Nichts. Sie beschloss, im Dunkeln zu pinkeln und ließ die Tür halb offen. Eine Restaurantbesucherin aus dem Westen betrat den Raum und brach in schallendes Gelächter aus. „Sie müssen die Tür zumachen. Das Licht funktioniert automatisch!“ Gabriella zog die Tür zu, das Licht ging an. Sie kannte diese Automatik nicht. Gabriella schämte sich für ihr Unwissen. „Ich habe in einem primitiven Land gelebt“, sagte sie, „ich habe mich in dem Moment so bescheuert und gedemütigt gefühlt.“

Als ich damals durch die DDR reiste, bin ich vielen solcher kleinen Geschichten begegnet. Leute, die von Versicherungsvertretern übers Ohr gehauen wurden; eine ostdeutsche Abgeordnete, die eine westdeutsche Kollegin auf eine Shoppingtour mitnahm, um sie „ordentlich“ einzukleiden, „und zwar von Kopf bis Fuß“, wie sie hinzufügte. Ganz zu schweigen von den arbeitslosen Familienvätern, die einmal einen Beruf gehabt hatten und sich nun „weiterbilden“ mussten, und sich wie ihre Kinder bei den Hausaufgaben über dicke Lehrbücher beugten.

Ich weiß nicht, was aus Gabriella geworden ist. Ich bin mir sicher, sie hat sich an ihr neues Leben gewöhnt und findet automatische Lichtschalter in Toiletten nicht mehr besonders geheimnisvoll. Kann sie heute über diesen Moment lachen? Und fühlen sich die Touristen aus Frankfurt am Main immer noch den Österreichern näher?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false