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Berliner Verhältnisse: Kann die Hauptstadt noch weiteren Zuzug verkraften?

Wohnen, Schulen, Verwaltung, Verkehr: Alles scheint in Berlin an seine Grenzen zu stoßen. Ein Überblick.

Glaubt man den Worten mehrerer Landespolitiker, kann man den Eindruck bekommen, sie wollten die die Mauer wieder aufbauen. Freiheit hat ihre Grenzen und Berlin ist langsam zu voll, verkünden sie. Die Linken-Abgeordnete Katalin Gennburg will deswegen weniger Geld für Tourismus-Werbung ausgeben, um die Zahl der Besucher in der Stadt gering zu halten.

Der CDU-Abgeordnete Christian Gräff hat sogar einen Zuzugsstopp gefordert: „Wir müssen denen, die hierher kommen sagen: Macht euch keine falschen Erwartungen. Wir haben die Infrastruktur nicht. Ihr könnt hier nicht herziehen“, sagte er dem RBB am Donnerstagabend – und erntete massenhaft Kritik, auch aus den eigenen Reihen.

De facto wächst Berlin noch, aber langsamer. Die Einwohnerzahl stieg im vergangenen Jahr um rund 29.400 auf rund 3,64 Millionen – deutlich weniger als in den Jahren zuvor. Der Zuzug aus dem Ausland hat nachgelassen. Berliner selbst ziehen zunehmend nach Brandenburg. Vielleicht auch, weil es ihnen in der Stadt zu viel wird? Ein Überblick.

SENAT

Immerhin, in der Zielstellung sind sich die Regierungsparteien SPD, Linke und Grüne einig: „Wir wollen das Wachstum Berlins politisch gestalten, ihm eine neue Richtung geben“, heißt es in der Präambel des 2016 ausgehandelten Koalitionsvertrags. Über die Richtung gehen die Vorstellungen aber offensichtlich auseinander. Während die Linke beim Wohnungsneubau auf der Bremse steht und Bestehendes verwalten will, macht die SPD Druck beim Neubau – Zeugnis des Streits war zuletzt das Ringen um den Stadtentwicklungsplan Wohnen.

Beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gibt es unterschiedliche Vorstellungen genau wie bei der Bekämpfung der Bildungsmisere. Was Rot-Rot-Grün eint: Jeder Partner verantwortet eine der Hauptbaustellen dieser Stadt. Vom sich gegenseitig versicherten Ziel, dem jeweils anderen etwas „gönnen zu können“, sind die Koalitionäre oft dennoch weit entfernt.

VERWALTUNG

Wer noch in diesem Monat eine Auslandsreise antreten will und dafür einen neuen Reisepass benötigt, hat schlechte Karten. Stand heute ist der erste freie Termin für die Beantragung des Dokuments im Bürgeramt erst Mitte Oktober verfügbar – berlinweit. Nachdem sich die Wartezeiten für Bürgerdienstleistungen in den vergangenen Jahren reduziert hatten, stiegen sie zuletzt wieder deutlich an. „Die Berliner Verwaltung ist herausgefordert“, sagt dazu der Grünen-Abgeordnete Stefan Ziller.

Überfordert, mag mancher denken. Dabei hält der Stellenaufwuchs in Haupt- und Bezirksverwaltungen mit dem Zuzug in die Stadt durchaus mit. Von Ende 2015 auf Juni 2019 stieg die Zahl der Vollzeitstellen in den Bezirken um mehr als 2000 auf 22 240. In den Landesbehörden kamen mehr als 5000 Stellen hinzu. Aktuell arbeiten in den Berliner Verwaltungen knapp 120.000 Menschen. Die Herausforderung des personellen Umbruchs in Zeiten von Fachkräftemangel und Konkurrenz der Bundesbehörden lastet schwer. Das Gelingen der derzeit nur schleppend voranschreitenden Digitalisierung könnte helfen.

WOHNRAUM

26 Quadratmeter im dritten Stock eines Neuköllner Seitenflügels ohne Balkon für 760 Euro? Bezahlbarer Wohnraum wird in Berlin zum Luxusgut. Während immer mehr Menschen kommen, sind die Senatspläne für den Bau von 25.000 neuen Wohnungen jährlich bereits auf weniger als 20.000 zurückgegangen und die Anzahl der erteilten Baugenehmigungen schrumpft.

Das selbst gesteckte Ziel der Koalition den landeseigenen Bestand von 306.000 Wohnungen noch in dieser Legislaturperiode um 30.000 Neubauten zu erweitern, wird wohl verfehlt. Das kündigte die zuständige Senatorin Katrin Lompscher bereits im Januar an. Um der Mangelware zumindest in Sachen Preispolitik einen Deckel aufzusetzen, sollen die Mieten ab 2020 für fünf Jahre eingefroren werden. Experten bezweifeln, dass das funktionieren wird oder gar zu mehr Wohnraum führt.

Weite Texte zum Thema Mietendeckel:

POLIZEI UND JUSTIZ

Das starke Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahre stellt die Sicherheitsarchitektur Berlins vor neue Herausforderungen. Je mehr Menschen auf engem Raum leben, desto mehr Kriminalität, heißt es oft. Die Zahlen zeigen eine gegenteilige Entwicklung: 2018 gab es laut Kriminalstatistik 511.677 Straftaten. Das sind so wenige wie zuletzt 1998. Damals lebten etwa 300.000 Menschen weniger in Stadt. Im nationalen Vergleich steht Berlin aber schlecht da: 14.160 Straftaten pro 100.000 Einwohner bedeuten den vorletzten Platz im Sicherheitsranking der deutschen Großstädte.

Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik attestierte, dass trotz der sinkenden Kriminalität ein „Gefühl der Unsicherheit“ bleibe. Ein Problem: Die Polizei wächst nicht mit der Stadt mit, ist auf der Straße wenig präsent. Sie ist nach Jahren des Schrumpfens wieder auf dem gleichen Personalstand wie 2001 und von Nachwuchssorgen geplagt. Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei kritisiert: „Die Berliner Sicherheitsbehörden sind nicht ausgestattet für die Aufgaben, die die Politik von ihnen erwartet.“

Das gleiche Problem hat die Justiz. Ihre Überlastung lässt sich messen: Die Zahl der abgeschlossenen Strafverfahren und der verurteilten Straftäter ist von 2016 auf 2017 um 16 Prozent gesunken. Wer in Berlin eine Straftat begeht, hat immer weniger zu befürchten. Der Sicherheitsapparat ächzt an der Belastungsgrenze.

VERKEHR UND MOBILITÄT

Zu den 3,64 Millionen Berlinern kommen jährlich 13,5 Millionen Touristen und täglich rund 320.000 Pendler. So sind im Jahr 2018 fast eine halbe Milliarde Fahrgäste in die Züge der S-Bahn gestiegen, mehr als eine Milliarde nutzten die Angebote der BVG. Busse und Bahnen sind insbesondere zu Stoßzeiten überfüllt, immer wieder kommt es zu Ausfällen und Verspätungen. Dazu kommen fehlende Radwege und Stau auf den Straßen.

Berlin bleibt für alle Verkehrsteilnehmer ein Nadelöhr. Die Maßnahmen des Mobilitätsgesetzes, die Berlin – vor einem Jahr beschlossen – „sicherer, sauberer, leiser und klimafreundlicher machen“ sollen, werden nur schleppend umgesetzt. Der Großauftrag zum Kauf von bis zu 1500 U-Bahnwagen für die BVG verspätet sich wegen Problemen beim Vergabeverfahren. 28 Milliarden Euro will Rot-Rot-Grün in den kommenden 15 Jahren in den öffentlichen Nahverkehr stecken. So zumindest der Plan. Der Regierende Bürgermeister will derweil ein 365-Euro-Jahresticket einführen.

KITAS UND SCHULEN

Dass Berlins Kitas und Schulen voll sind – daran gibt es keinen Zweifel. Schätzungsweise 2000 Kitaplätze fehlen. Ausdruck dessen sind Klagen vor Gericht sowie Landesgelder für die ersatzweise Bezahlung von Babysittern. Im Schulbereich zeugen vollere Klassen, weitere Schulwege sowie Containerräume vom Mangel an Schulplätzen.

Allerdings gäbe es durchaus Möglichkeiten, mehr Kapazitäten zu schaffen: Das Land Berlin leistet sich noch immer hohe Hürden für Kita-Neugründungen und unattraktive Bedingungen für Tagesmütter, die den Mangel an Kitaplätzen lindern könnten. Aber auch im Schulbereich werden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft: Etliche freie Träger berichten, dass das Land auch im Schulbereich Neugründungen erschwere. In keinem anderen Bundesland müssen sie so lange auf Landeszuschüsse warten wie in Berlin. Es gibt also durchaus ungenutzte Potenziale.

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