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Berlin trägt Kippa. Auch symbolische Aktionen können einen Beitrag leisten.

© Michael Kappeler/dpa

Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh: Die Islamhasser von heute sind die Antisemiten von morgen

Rechte politische Kreise wollen die Debatte um Antisemitismus auf Flüchtlinge beschränken. Wie wir Judenhass wirklich bekämpfen können. Ein Gastkommentar.

Wenn auf deutschen Straßen Juden angepöbelt werden und ihnen vor laufender Kamera ins Gesicht gesagt wird, dass sie alle „in den Gaskammern landen“ werden, wenn in deutschen Schulfluren jüdische Mädchen mit dem Tod bedroht werden, wenn vor einem deutschen Café ein Mann, der eine Kippa trägt, mit einem Gürtel ausgepeitscht werden kann und viele dabei ungerührt zusehen, wenn in deutschen Klassenzimmern – über Monate unbemerkt – Lehrer ihren Schülern von jüdischen Weltverschwörungen erzählen können, wenn auf deutschen Friedhöfen regelmäßig jüdische Gräber mit Hakenkreuzen beschmiert werden, dann haben wir ein Problem. Wir haben in unserer deutschen Gesellschaft ein ernsthaftes Problem mit Antisemitismus.

Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh (SPD)
Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh (SPD)

© dpa/Daniel Naupold

Jeder fünfte Deutsche hat Vorurteile

Das ist nicht neu. Experten wie Monika Schwarz-Friesel warnen davor schon seit Langem. Vor einigen Jahren hat die renommierte Antisemitismusforscherin in einer Enquête-Kommission des Bundestages zum Thema Judenfeindlichkeit in Deutschland mitgearbeitet. Das Ergebnis war erschreckend. So gebe es in der deutschen Bevölkerung an die 20 Prozent Menschen mit antisemitischen Einstellungen. Schwarz-Friesel sammelt seit Jahren Droh- und Schmähbriefe, die an den Zentralrat der Juden oder andere jüdische Einrichtungen geschickt werden. Die Stapel ungefilterten Hasses auf Papier sind ein erschreckender Beleg für diesen offenbar tiefsitzenden Antisemitismus. Jeder fünfte Deutsche trägt mehr oder weniger offen Vorurteile gegenüber jüdischen Mitmenschen mit sich herum. Nur ist dies im Bewusstsein unserer Gesellschaft kaum verankert. „Ich erlebe in Deutschland eine Scheinheiligkeit, wenn es um Antisemitismus geht, die frappierend ist“, sagte Schwarz-Friesel kürzlich.

Die 20 Prozent Antisemiten – in absoluten Zahlen entspricht das 16 Millionen Menschen – sollten wir im Kopf behalten, wenn wir jetzt über neue Phänomene des Judenhasses in Deutschland sprechen. Natürlich schwappte mit den hunderttausenden Flüchtlingen aus dem Nahen Osten auch ein neuer Antisemitismus in unser Land. Es wäre doch völlig weltfremd, dies leugnen zu wollen. In der Region, aus der die Flüchtenden zu uns kommen, befinden sich zig Staaten seit Jahrzehnten mit Israel in einem mal kälteren, mal heißeren Kriegszustand. Dass dort antisemitische Einstellungen wuchern, liegt auf der Hand. Und dass wir diesen Antisemitismus unter Flüchtlingen in unserem Land genauso wenig dulden dürfen wie den Antisemitismus unter den alteingesessenen Deutschen, liegt für mich genauso auf der Hand.

Neonazis unter dem Deckmäntelchen des Anti-Antisemitismus

Allerdings muss uns eines auch bewusst sein: Aktuell erleben wir, wie gewisse politische Kreise ganz bewusst die Problematik des Judenhasses in unserer Gesellschaft auf die geflüchteten (muslimischen) Flüchtlinge fokussieren wollen. Diese leicht zu durchschauende Strategie dürfen wir den rechten Hetzern nicht durchgehen lassen. Unter dem Deckmäntelchen des vermeintlichen Anti-Antisemitismus verstecken sich heute zahlreiche Reaktionäre und Neonazis, die sich angeblich auf eine christlich-jüdische Tradition unseres Landes berufen, in Wahrheit aber nur einen Vorwand suchen, um ihre Ablehnung gegenüber Muslimen gesellschaftsfähig zu kleiden. Wenn sich die AfD jetzt als großer Beschützer der jüdischen Mitbürger aufspielt, zeitgleich aber einen revisionistischen Scharfmacher wie Björn Höcke in ihren Reihen duldet, dann ist das verlogen. Wenn die Dresdner Pegida-Marschierer angeblich das christlich-jüdische Abendland verteidigen wollen, auf ihrer Demo aber nationalsozialistische Konzentrationslager verherrlicht werden, dann ist das verlogen. Es ist verlogen, heuchlerisch und gefährlich.

Deswegen sage ich ganz klar: Die Islamhasser von heute sind die Antisemiten von morgen. Durchschaut haben das als Erste unsere jüdischen Mitbürger, was ich immer wieder in Gesprächen höre. Wir dürfen dieses falsche Spiel nicht mitmachen. Genauso wenig dürfen wir Antisemitismus unter Flüchtlingen dulden. Bei uns gilt: Null-Toleranz gegenüber den Intoleranten – wer offen gegen Juden, Homosexuelle, Ausländer, gegen Moslems oder die Angehörigen anderer Religionen hetzt, der bekommt die Härte des Gesetzes zu spüren. Und zwar – hoffentlich – massiv.

Wer für unsere Moralvorstellungen aufnahmefähig ist

Momentan wabert der Verdacht durch deutsche Schreibstuben und über deutsche Stammtische, dass unter den geflüchteten Neuankömmlingen anteilig noch mehr Antisemiten sind, als es sie in der bereits ansässigen deutschen Bevölkerung gibt. In meinen Augen ist das jedoch nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist: Wie können wir den Antisemiten unter den Neuankömmlingen begegnen und wie können wir diesen unsere Werte so nahebringen, dass sie diese annehmen und eines Tages vielleicht sogar verteidigen.

Hoffnung macht mir dafür der Alltag. Projekte wie etwa KIgA, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, arbeiten seit Langem mit Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan zusammen und sie beobachten eine spannende Entwicklung: Bei vielen der in unserem Land Ankommenden sind die Weltbilder zusammengebrochen. Diese Menschen sind gerade dabei, sich selbst neu zu verorten.

In Kreuzberg haben sie die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen in ihrer aktuellen Situation besonders aufnahmefähig sind für unsere Moralvorstellungen, für ungewohnte, neue Wertmaßstäbe. Diese Erkenntnis zeigt nur noch eindringlicher, wie wichtig es ist, dass wir uns die Zeit nehmen und uns die Mühe machen, diese Werte und Moralvorstellungen auch zu vermitteln. „Selbst wenn es unter den Geflüchteten 50 Prozent Antisemiten geben würde, dann könnten wir bei denen weit mehr bewegen als bei den hier sozialisierten festgefahrenen Antisemiten“, sagte mir kürzlich Dervis Hizarci. Der Vorstand der Kreuzberger Antisemitismus-Initiative arbeitet aktuell mit einem guten Dutzend von Flüchtlingen zusammen und beobachtet immer wieder, dass bei den Ankommenden oft vieles verwischt. Da werde der Staat Israel mit „den Juden“ gleichgestellt, die Politik der israelischen Regierung werde als „jüdisch“ bezeichnet. „Da schaffen wir es in relativ kurzer Zeit, ganze Weltbilder zu verändern“, beschrieb Hizarci seine Erfahrung.

Wo Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wuchert

Auch wenn das Phänomen des Judenhasses in unserer Gesellschaft leider altbekannt ist – neu ist auf jeden Fall die Offenheit, die Ungeniertheit, ja, die Brutalität, mit der sich dieser Antisemitismus heute Bahn bricht. Legt man die einzelnen Vorfälle der vergangenen Wochen und Monate nebeneinander, dann erinnern sie an die dunkelsten Zeiten unserer deutschen Geschichte. Allerdings gehört zur Wahrheit auch dazu, dass die Zeiten zum Glück völlig andere sind. Heute leben wir in einer aufgeklärten, toleranten, starken, überzeugten und wehrhaften Demokratie. Trotzdem heißt das nicht, dass es heute in Deutschland keine rückwärtsgewandten, demokratie- und menschenverachtenden Einstellungen mehr geben würde. Beides muss immer zusammen gedacht werden. Unsere Demokratie ist stark, liberal und weltoffen, und dennoch gibt es in der Bevölkerung nicht unerheblich große Gruppen von Menschen, die diese demokratischen, liberalen, toleranten und weltoffenen Werte mit Füßen treten.

Vor wenigen Wochen war ich für eine politische Veranstaltung in Anklam. Ich war schockiert, als mir die dortigen Sozialdemokraten berichteten, wie in ihrer Region die Rechtsextremen völlig offen und ungeniert immer größere Gebiete für sich eroberten. In manchen Ecken, im äußersten nordwestlichen Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns, dominieren die Neonazis inzwischen die ländliche Gesellschaft und von den demokratischen Parteien ist weit und breit nichts zu sehen. Wenig verwunderlich, dass da dann auch der Antisemitismus, der Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Islamfeindlichkeit wuchern.

Wer gegen Menschen hetzt, ihnen droht oder gar gewalttätig wird, ganz egal welchen Glaubens, welcher Herkunft, welcher sexuellen Orientierung, welcher politischen Einstellung, der muss mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt werden. Und da ist mir völlig egal, ob das ein frisch zugewanderter oder ein alteingesessener Hetzer ist. Den Antisemiten in Armani-Anzügen müssen wir genauso den Kampf ansagen wie den Antisemiten in den Flüchtlingsunterkünften, und zwar dringend!

Natürlich brauchen wir symbolische Gesten!

Bleibt die Frage, wie wir diesen Gruppen von Mitbürgern begegnen wollen. Es gibt drei Möglichkeiten: Verbote, Appelle und Aufklärung. Verbote haben wir ausreichend und sie müssen auch konsequent umgesetzt werden. So wird der Gürtelschläger aus dem Prenzlauer Berg nun hoffentlich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, was extrem wichtig wäre. Appelle finden auch statt, gerade erlebten wir in deutschen Städten große öffentlichen Bekundungen der Solidarität mit unseren jüdischen Mitbürgern. Berlin trug Kippa, Potsdam trug Kippa, Erfurt und zig andere Städte ebenfalls. Bei einigen Journalisten blieb dennoch die Frage offen: Was bringen diese symbolischen Aktionen unterm Strich?

Besuche mit Migranten in der KZ-Gedenkstätte

Natürlich brauchen wir symbolische Gesten! Es ist ein ganz starkes Zeichen, wenn hunderte, wenn tausende, wenn zehntausende Deutsche gegen Antisemitismus und Fremdenhass auf die Straße gehen. Es ist auch ein starkes Zeichen gegenüber den Neuankömmlingen in unserem Land. Was wir jetzt aber in erster Linie brauchen, ist ein viel größeres Miteinander. Ein intensiver Austausch von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung. Wir müssen in die Kitas, in die Grundschulen, in die Oberschulen und Gymnasien. Wir brauchen eine Bildungsoffensive gegen Antisemitismus, Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung jeglicher Art. Angehende Lehrer müssen lernen, was eine multikulturelle Gesellschaft ausmacht und welche Lerninhalte wir unserem Nachwuchs deshalb vermitteln wollen. Dafür müssen wir an die Rahmenlehrpläne ran. Wir müssen neue Inhalte reinschreiben und den alten teils wieder einen größeren Stellenwert einräumen. Vor einigen Jahren flammte kurz eine Diskussion auf, weil das Thema Holocaust in manchen Bundesländern auf wenige Unterrichtsstunden zusammengestrichen werden sollte. Ganz klar, wir brauchen nicht weniger, wir brauchen mehr Beschäftigung mit diesem dunklen Teil unserer Geschichte. Es geht nicht darum, unseren Jugendlichen irgendeine Schuld für die Gräueltaten unserer Geschichte einzureden. Es geht um ein verantwortungsvolles Erinnern. Wir alle, Alteingesessene und Neuankömmlinge, müssen wissen, was in unserem Heimatland vor 80 Jahren geschehen ist.

Immer wieder fahre ich mit Jugendlichen aus meinem Heimatbezirk Spandau in das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz, 40 Kilometer westlich von Krakau. Das ist eine bedrückende, aber auch eine beeindruckende Erfahrung. Denn in der Gruppe sind meistens viele Jugendliche mit einem sogenannten Migrationshintergrund, mit Eltern oder Großeltern aus dem Kosovo, aus dem Libanon, der Türkei oder Marokko. Anfangs spüre ich oft, wie diese Jugendlichen diesen schweren Teil unserer Geschichte ablehnen und sagen, dass ihre Vorfahren doch nichts damit zu tun hätten. Nach dem Besuch hat oft bei vielen ein Umdenken stattgefunden und die Jugendlichen sehen eine Verantwortung für alle Menschen, die in Deutschland leben: dass wir alle nämlich immer dafür kämpfen sollten, dass (religiöse) Minderheiten in unserem Land niemals wieder diskriminiert, verfolgt oder gar umgebracht werden.

Größere Leidenschaft für demokratisches Miteinander

Am Anfang des Tolerierens steht eben oft das Verstehen, das Kennenlernen. Genau zu diesem Zweck, um ein größeres Miteinander hinzubekommen, versuchen wir gerade in Kreuzberg eine von den Nationalsozialisten zerstörte Synagoge wiederaufzubauen. Ziel soll es sein, dort auch eine jüdische Kita unterzubringen, in der eines Tages ganz selbstverständlich jüdische Kinder, christliche Kinder und genauso Kinder aus der mehrheitlich muslimischen Nachbarschaft gemeinsam erzogen werden.

Wir brauchen eine größere Leidenschaft für ein demokratisches Miteinander, mehr Zivilcourage. Wir brauchen eine neue gemeinsame Erzählung für unser Land. Ich wünsche mir, dass wir in unseren Kitas und Schulen, in den Deutschkursen für die Flüchtlinge, an den Volkshochschulen genauso wie an den Unis und in Feierabendseminaren den Grundstein legen für ein couragiertes, tolerantes, friedliches und verständiges Miteinander. Das ist in meinen Augen die richtige Antwort, die wir jetzt auf die beschämenden Vorfälle der vergangenen Wochen und Monate geben müssen!

Der Autor ist Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.

Raed Saleh

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