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Politik: Berlin, vertikal

14 000 Alpenvereins-Mitglieder in der Stadt! Dabei ist sie doch so platt wie ein Kuchenteller. Keine Berge weit und breit. Was für ein Irrtum. Wer genau hinsieht, stellt fest: Berlin ist ein durch und durch alpiner Ort.

Da saß er nun auf dieser Holzbank und schaute in die Höhe. Und hätte doch viel lieber in die Weite geschaut. Bis zum Horizont. Aber hier gab es keinen Horizont. Nur diese bedrängenden Felsmassen, diese hochfahrenden Ungetüme, die die Sonne verdunkelten.

Wilhelm Giesecke hatte schlechte Laune und wünschte sich weit weg. An die Ostsee zum Beispiel, wo er seine vergangenen Urlaube verbracht hatte, sehr angenehme Urlaube und auch gar nicht weit weg von Berlin. Aber jetzt: Österreich! Salzkammergut! Eine halbe Weltreise. Nur weil es seine Tochter so gewollt hatte.

Wilhelm Giesecke, von Beruf übrigens Trikotagenfabrikant, gibt es nicht. Er ist nur eine Theaterfigur und hat in der Operette „Im weißen Rössl“ die Aufgabe, ein Klischee zu bedienen. Das Klischee vom ewig nörgelnden Berliner als Flachlandtiroler, dem nichts so fremd ist wie Berg und Tal, wie Gletscher und Granit.

Man muss nicht alles glauben, was auf dem Theater gespielt wird, zumal wenn es sich um einen Ausbund an Albernheit handelt wie jene Geschichte vom „Rössl“ am Wolfgangsee. Die Wahrheit ist vielmehr: Die Berliner und die Berge – das ist eine innige Beziehung, ja, die Stadt ist ein geradezu alpiner Ort. Und zwar seit jeher. Lange bevor eine Gruppe mehr oder weniger besessener Engländer im 19. Jahrhundert begonnen hatte, die Alpen unsicher zu machen, kam der erste namhafte Bergsteiger aus Berlin. Alexander von Humboldt, der 1801 in Ecuador den Chimborazo bestieg, die damals angeblich höchste Spitze der Welt. Er schaffte es zwar nicht auf den Gipfel, aber mit 5350 Metern hat er immerhin einen ersten Höhenrekord aufgestellt.

Der Pionier fand Nachahmer, es wurden immer mehr, die Bergsteigerei kam in Mode. Und als 1869 der Deutsche Alpenverein gegründet wurde, waren wieder die Berliner mit dabei und zählten zu den Gründungsmitgliedern. Übrigens keineswegs wild gewordene Abenteurer vom Rand der Gesellschaft, sondern wohlsituierte Bildungsbürger, großstädtische Elite. Der alljährliche „Alpenball“ am Zoo war eines der großen gesellschaftlichen Ereignisse im Berliner Leben. Beliebt war auch das Eisbein-Essen der Schuhplattl- und Sangesgruppe Berlin. Alpine Volkstänze, Dirndl und Trachten erfreuten sich größter Beliebtheit sowie der gewiss hörenswerte Versuch, Tiroler Mundart nachzuahmen.

1879 kam es dann zur ersten Landnahme in den Alpen. Hoch über dem österreichischen Zillertal entstand die „Berliner Hütte“, ein kleines Haus zunächst, doch bald erweitert und erneuert wurde sie schließlich – da Berlin und Bescheidenheit keine Synonyme sind – zur größten Berghütte der Alpen. Sie ähnelt heute eher einem Hotel mit ihrem holzvertäfelten Foyer und den Kunstschnitzereien im Speisesaal. Aber sie ist nicht die einzige Hütte, die der Berliner Alpenverein sein Eigen nennt. Zwei weitere stehen in den Zillertaler und drei in den Ötztaler Alpen.

Und die Berliner Bergbegeisterung ist keineswegs in die Jahre gekommen. Die Mitgliederzahl der vier Berliner Sektionen, wie man beim Alpenverein die verschiedenen Einzelvereine nennt, steigt und liegt mittlerweile bei 14 000. Damit ist der Alpenverein hinter Hertha BSC der größte Sportverein der Stadt.

Aber warum nur? Was treibt die Berliner in die Alpen? Liegt es daran, dass der Berliner an sich immer gerne hoch hinaus will – immerhin ist der Fernsehturm mit seinen 368 Metern das höchste Bauwerk Deutschlands? Oder kommt es von der alten Lebensweisheit, dass der Mensch partout nach dem sucht, was er nicht hat? Genau das ist das Berliner Problem. Nirgendwo ein Berg. Keiner jedenfalls, der diesen Namen verdient hätte. Platt wie ein Kuchenteller. Eben wie ein Brett. Wie schafft es das horizontale Berlin, in die Vertikale zu kommen? Für Johannes Maier ist das keine Frage.

Johannes Maier, von Beruf Architekt, ist, um im Bergbild zu bleiben, so etwas wie das Urgestein des Berliner Alpinismus. Jetzt sitzt er mit seiner Frau Gisela im Garten seines Hauses in Mariendorf zwischen den Blumen in der Sommersonne und demonstriert erst einmal, dass das Bergsteigen eine äußerst gesunde Angelegenheit ist. Dass er demnächst 87 Jahre alt wird, steht in seinem Personalausweis, aber keineswegs in sein Gesicht geschrieben. Zweitens aber hat er die entschiedene Ansicht, dass Berlin gar nicht weit von den Bergen entfernt ist – wofür gibt es denn sonst das Elbsandsteingebirge? 1000 Felsen ragen dort in die Höhe, nein, er sagt es genauer, „1000 besteigbare Felsen“, und von denen hat er ungefähr 800 erklettert. Acht Jahre war er, als ihn sein Vater zum ersten Mal in diese bizarre Landschaft aus steinernen Nadeln mitgenommen hat, und er ist immer wieder dorthin gefahren. Aber zum Trainieren mussten die Berliner nicht einmal bis in die Sächsische Schweiz fahren. Schließlich gibt es die Rüdersdorfer Kalksteinbrüche. Und wenn die Kletterlüste allzu ungestüm wurden, dann waren da ja noch ein paar abgestorbene Eichen im Grunewald oder gar der Feuerwehrturm in Mariendorf, wo sich tollkühne Abseilübungen veranstalten ließen. Berlin, so ist in diesem Mariendorfer Garten zu erfahren, liegt eigentlich mitten im Gebirge.

Aber natürlich ist Johannes Maier auch in die Alpen gefahren, unentwegt sogar, hat fast alle Schweizer Viertausender bestiegen, beinahe jeden Gipfel im Montblanc-Gebiet, aber er wollte weiter und immer noch weiter, ist im Himalaja gewesen, in Patagonien, in Ecuador. Und jetzt muss er schnell etwas holen.

Johannes Maier bringt das Dokument seines Lebens an den Gartentisch. Ein Verzeichnis, eng, akribisch und akkurat beschrieben, 192 Seiten dick. Es ist das Register seiner Gipfelglücke. Seit 1934 hat er alle seine Bergtouren aufgeschrieben, jede Nord-, Süd- und Ostwand, jeden Überhang und jede Verschneidung, jeden Eisbruch und jeden Felsturm. Jahrzehnte in der Vertikalen. 25 Touren hat er auf jede Seite geschrieben, an die 5000 Unternehmungen sind das.

Hat daneben noch Zeit gehabt, von 1975 bis 1985 den Berliner Alpenverein, in den er mit 16 Jahren eingetreten war, zu leiten und in all den Jahren ungezählte „alpine Lehrabende“ abzuhalten. Die vornehmste Aufgabe des Alpenvereins. Weil sie Leben rettet. Oder es zumindest könnte. Johannes Maier schaut jetzt sehr ernst und holt noch einmal etwas. Eine Klarsichthülle, in der alle Zeitungsartikel stecken, die er über den Unfall am Schweizer Lagginhorn vom Juli gesammelt hat. Berliner waren auch unter den fünf Toten. Noch immer ist nicht genau geklärt, wie es zu diesem unbegreiflichen Absturz kam.

Aber jeder Bergsteiger weiß, und Johannes Maier weiß es ganz genau: dass das Glück, das er in seinem Leben auf den Gipfeln erfahren hat, nur einen schmalen Gratgang vom Unglück entfernt ist. Dass sich das Glück des Bergsteigens gerade durch die Möglichkeit des Unglücks definiert. Johannes Maier hat das Unglück nicht erfahren, jedenfalls nicht persönlich. Außer ein paar gebrochenen Rippen in der Monte-Rosa-Ostwand ist ihm nie etwas Ernsthaftes widerfahren. Ein Glücksbergsteiger, einer, der im Aufwärtsgehen sein Leben erfüllt.

Selbst sein Liebesleben hat Johannes Maier einer alpinistischen Räson unterworfen. Seine erste Freundin nämlich , so erzählt er heute, erwies sich in den höheren Höhen als nur bedingt schwindelfrei. Versteht sich, dass es nicht gut gehen konnte mit den beiden. Deshalb war es kein Zufall, dass er im Alpenverein eine andere kennenlernte, eine Chemiestudentin, die er bald heiratete. Und seine Frau Gisela im Mariendorfer Garten lächelt ein schwindelfreies Lächeln.

Die pure Glückseligkeit ist die Berliner Bergsteigerei indes nicht immer gewesen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden Antisemitismus und Rassismus im gesamten Deutschen Alpenverein, also auch in Berlin glühende Befürworter. Schwere ideologische Auseinandersetzungen begannen, das Vereinsleben zu bestimmen, insbesondere über die Frage, ob Juden Mitglieder bleiben dürfen. Die alpine Stimmung wurde zunehmend aggressiver, es kam zu Vereinsaustritten und -neugründungen, etwa der berüchtigten Sektion Mark Brandenburg, die einen Arierparagrafen in ihre Statuten schrieb und schon 1933, fünf Jahre vor der Pogromnacht, zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief. Und es währte nicht lange, bis sich der Nationalsozialismus auch die anderen „Zweige“ des Alpenvereins, wie die Sektionen damals hießen, unterworfen hatte.

Viele Jahre hatte der Alpenverein in der Nachkriegszeit mit seiner Vergangenheit zu kämpfen, zumal er zunächst nicht die geringste Bereitschaft zeigte, sich der eigenen Geschichte zu stellen. So dauerte es geraume Zeit, bis die alte Idee wieder Leben gewann, dass auf den Bergen die Freiheit wohnen könnte.

Und es ging für die Berliner Bergsteiger auch nicht gut weiter. Keine Reisefreiheit – keine Berge. Für die Ost-Berliner schon gar nicht. Und für die West-Berliner war die alte Kletterheimat Elbsandsteingebirge ein gar nicht mehr heimatlicher Ort geworden. Im Weserbergland fanden sie ein paar Ersatzfelsen.

Und heute? Und heute! Das Vertikale ist in Mode gekommen wie noch nie zuvor. Klettern wurde zu dem, was man Trendsport nennt, und führte bald zu der Erkenntnis, dass es überhaupt kein Schaden ist, wenn man keine Berge hat. Man kann sich doch einfach welche bauen. Nicht nur jene Kletterhallen, in denen auf präparierten Routen und mit vorgegebenen Griffen wenn schon nicht Gipfel, so doch Hallendecken erklommen werden können. Nein, ganz Berlin streckte sich plötzlich in die Höhe, und fast wäre es zu einer hochalpinen Erweckung gekommen. Was machen wir mit dem Tempelhofer Feld? Einen riesigen Berg bauen wir dort, hieß eine der kühnen Ideen, steile 1000 Meter hoch, mit Seilbahn, Skiabfahrt, Gämsen und Kletterwänden. Bekanntlich ist nichts daraus geworden, aber der Drang in die Höhe ist trotzdem allenthalben in der Stadt zu besichtigen. Nur wenigen fällt es auf, aber an jeder Ecke geht es in die Höhe. „Klettern in Berlin“ heißt eine Seite im Internet, und sie weist sagenhafte 116 Treffer auf (Potsdam eingeschlossen). Nicht alle dieser Kletterstellen sind legal, wie etwa gewisse Touren auf den Glockenturm am Olympiastadion, Routen über die Fassaden der Technischen Universität oder wilde Kraxeleien an Spreebrücken.

Aber auch die Auswahl an legalem Berliner Höhengewinn ist kaum zu zählen – und wird sich noch einmal vermehren, wenn die große Kletterhalle des Alpenvereins fertiggestellt ist, deren Bau in der Lehrter Straße gerade begonnen wurde. Bisher mussten sich die Vereinsmitglieder hauptsächlich mit dem Kletterturm am Teufelsberg begnügen. Ein graues Betonungetüm, das – mitten im Wald – 14 Meter in die Höhe ragt und vieles bietet, was Kletterherzen und -muskeln begehren: seifenglatte Wände, finstere Kamine, Risse und Runzeln, Bierhenkelgriffe für die Anfänger, fingerschmale Leisten für die Geübten, brutalstmögliche Überhänge für die Profis. Und ganz oben auf dem Betonberg steht sogar ein veritables Gipfelkreuz. Der Alpenverein trainiert hier meist an den Wochenenden, kleine Kurse, höchstens zwölf Teilnehmer, viele junge Frauen. Seile, Karabinerhaken, Kletterschuhe, Beutel mit Magnesia-Pulver, um die Kletterfinger griffig zu machen. Morgens Seiltechnik, Knotenübungen, Grundbegriffe. Nachmittags dann die Hand am Fels. Und schon nach wenigen Stunden hat sich erwiesen, wer ein Talent ist und wer nicht, wer seine Hände und Füße leichthin über die Scheinfelsen tanzen lässt und wer die Berge in Zukunft besser von unten anschauen sollte.

Der Teufelsberg ist nicht der einzige Klettergarten in Berlin. Wer kennt zum Beispiel die Kirchbachspitze in Schöneberg, ebenfalls 14 Meter hoch? Oder ganz andere Steilheiten. Ein paar davon: der Bunker im Humboldthain; die schicke Halle der Mercedes-Niederlassung am Salzufer; der Bunkerkegel in der Revaler Straße; der Monte Balkone in Hohenschönhausen; das Marzahner Gebirge; der Betonklotz im Wedding; die Schwedter Nordwand. Berlin, vertikal.

Wilhelm Giesecke, der Trikotagenfabrikant aus Berlin, den es unseligerweise an den österreichischen Wolfgangsee verschlagen hat, hätte an alledem vermutlich wenig Freude gehabt. Aber zum Glück gibt es ihn ja nur in der Operette.

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