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Der elfjährige Mohammed, ein Flüchtling aus Syrien, lernt mit seiner Mutter in einem Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene im Libanon. Sicherheit, Bildung, genug zu essen und Chancen sind es, die Menschen suchen, sagt die Fachkommission Fluchtursachen. Libanon, wo dies gerade wegen der Krise im Land vor allem für Geflüchtete in Gefahr ist, wäre eines der Aufnahmeländer, denen nach ihren Kriterien massiv geholfen werden müsste.

© Joseph Eid/AFP

Bericht der Regierungskommission Fluchtursachen: "Kein Mensch begibt sich freiwillig auf die Flucht"

24 Fachleute haben einen Bericht über Fluchtursachen verfassst - und empfehlen der Bundesregierung, Krisen aktiv vorzubeugen. Mehr Sachkenntnis ist gefragt.

Wenn die Flüchtlingszahlen sich vermindern sollen, muss Deutschland sich stärker und mit langem Atem für die Verbesserung des Lebens im Süden der Welt engagieren. Dies fordert die von der Bundesregierung 2019 eingesetzte Fachkommission „Fluchtursachen“ in ihrem Abschlussbericht, die die beiden Vorsitzenden Gerda Hasselfeldt und Bärbel Dieckmann am Dienstag vorstellten. Die CSU-Politikerin Hasselfeldt war in zwei Kabinetten Kohl Bau- und Gesundheitsministerin und ist heute Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes. Dieckmann war Bonns erste Oberbürgermeisterin und die erste Sozialdemokratin in diesem Amt; sie leitet jetzt die Deutsche Welthungerhilfe.

Die Kommission war Teil des Koalitionsvertrags von  2018; unter dem Eindruck der Jahre starker Fluchtmigration nach Deutschland und Europa sollte sie Vorschläge machen, wie sich die Gründe zur Flucht abbauen ließen. 24 Fachleute arbeiteten in der Kommission, darunter Migrationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, der Migrationsfachmann und Politikberater Gerald Knaus und die CDU-Kommunalpolitikerin und Vorsitzende der afrodiasporischen NGO "Tang", Sylvie Nantcha. Fast 40 Personen berieten die Kommission von außerhalb.

 Krisen vorbeugen und keine Waffen verkaufen

Sie schlägt nun 15 Maßnahmen vor, die die aktuelle Bundesregierung und ihre Nachfolgerin nach der Bundestagswahl im Herbst unmittelbar in Angriff nehmen sollten: Zwischen den Zeilen lässt sich aus dem Bericht lesen, dass es dem politischen Deutschland aus Sicht der Kommission wohl schon an Analyse und Plan für internationalen Einsatz fehlt. Die Bundesregierung, heißt es diplomatisch im Text, „sollte ihre politische Strategiefähigkeit stärken, um Krisen effektiver zu verhindern und bestehende Konflikte zu bewältigen.“

Schließlich seien „Gewaltkonflikte (…) eine zentrale Ursache von Flucht und Vertreibung“. Nach Auffassung der Kommission sollte der Einsatz hier jedoch nicht mit militärischen Mitteln erfolgen: „ Die Möglichkeiten einzugreifen“ heißt es im Text, „sind jedoch meist begrenzt“, weswegen die Kommission dafür plädiert, die Energie in die Prävention zu stecken. Deutschland sollte „seine Kapazitäten für Mediation und humanitäre Diplomatie“ ausbauen und: „Rüstungsexporte und Sicherheitskooperationen sollten genau geprüft werden, damit sie Konflikte nicht weiter anheizen oder Menschenrechtsverletzungen befördern.“

Konkret schlagen die 24 Expertinnen und Experten der Kommission vor, einen “Rat für Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ zu gründen, der einerseits die regierungseigenen Ressourcen in den Ministerien und Behörden bündelt, andererseits mit NGOs und Zivilgesellschaft zusammenarbeitet, um Werkzeug zur Bewältigung von Krisen zu schmieden.

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Weiter mahnt die Kommission massiven Einsatz für Klimaschutz sowohl in Europa wie auch in den besonders durch die Klimakatastrophe bedrohten Ländern und Gegenden im Süden der Welt an. Das Klima nennt sie, nicht als erste, als Nummer zwei der Fluchtgründe.

Klimaschutz in Europa durch Klimaschutz im Süden begleiten

Investitionen in Deutschland sollten durch clima matching, also parallele Investitionen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, vor allem in den am meisten gefährdeten, “signifikant” begleiten. Als weiteren Punkt nennt der Report mit dem Titel "Krisen vorbeugen, Perspektiven schaffen, Menschen helfen" Hilfe vor Ort. Staatliche Institutionen oder lokale Verwaltungen sollten in die Lage versetzt werden, allen grundlegende Versorgung und Sicherheit zu bieten, etwa Schulen, Gesundheitsversorgung, persönliche Sicherheit und Zugang zu grundlegenden Ressourcen.

Wenn auch nur zehn Prozent der Mittel, die die Welt jetzt für die Pandemiekrise aufwende, in den globalen Süden flössen, ließen sich Not und Hunger beenden, sagte der scheidende Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU), bei Vorstellung des Kommissionsberichts. “Warum tun wir es nicht?” 20 Millionen Menschen weltweit hätten keinen Zugang zu sauberem Wasser. “Das können wir ändern.”

Bärbel Dieckmann betonte wie Müller (“Kein Mensch begibt sich freiwillig auf die Flucht”), dass “die riesige Mehrheit” der Flüchtenden tatsächlich gar nicht wegwolle, sondern dazu gezwungen sei, ihre Heimat zu verlassen. Der Löwenanteil von ihnen, 85 Prozent, bleibe in den oft bitterarmen Nachbarländern und erreiche nie den reichen Norden der Welt.  Auch diesen Aufnahmestaaten müsse geholfen werden, sagte Müller und mahnte mit Blick auf die aktuelle Flucht von Marokko nach Spanien die EU zu Taten: “Seit 15 Jahren verhandelt Marokko mit der  EU über den Zugang zum europäischen Markt.” Das könne Arbeitsplätze schaffen für eine Jugend, die hinter Zäunen auf den Wohlstand in Europa schauen müsse. Marokko den Weg zu ebnen, sei nicht Entwicklungsarbeit. "Das ist faire  Handels- und Wirtschaftspolitik”.

Durch während der Vorstellung des Berichts wurde deutlich, wie groß der Abstand zwischen Worten und Taten ist: Müller selbst hatte auf die Verdopplung der weltweiten Flüchtlingszahlen in nicht einmal einem Jahrzehnt hingewiesen. Von 41,1 Millionen im Jahre 2010 stiegen sie auf  79,5 Millionen 2019. 125 Millionen Klimaflüchtlinge, so Müller, könnten in den nächsten 25 Jahren hinzukommen, falls die Erderwärmung nicht gestoppt werde. Zudem habe Corona 115 Millionen “in absolute Armut zurückgeworfen”.

Immer mehr Flüchtlinge - aber immer weniger in Deutschland

Die Asylzahlen für Deutschland sind hingegen wieder zurück auf dem Niveau von 2013. Auf eine entsprechende Frage reagierte Minister Müller ausweichend und sagte, dass Deutschland seine internationalen Verpflichtungen erfülle. Der anwesende Staatssekretär im Bundesinnenministerium Helmut Teichmann verteidigte die EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Deren Beteiligung an illegalen Pushbacks, also dem Zurückschieben von Flüchtlingen, ist allerdings in mehreren, teils drastischen Fällen, dokumentiert.

Auch zum Grenzregime Europas und Deutschlands äußert sich die Kommission, die Müller und sein Parteikollege, Innenminister Seehofer, eingesetzt hatten: “Die Bundesregierung sollte dringend darauf hinarbeiten, ihre Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik so zu gestalten, dass Flüchtlinge sowie irreguläre Migrantinnen und Migranten menschenwürdig behandelt werden.

Dies ist nicht nur menschlich geboten, sondern auch deshalb, weil Deutschland nur so glaubwürdig die Einhaltung internationaler Standards von anderen Ländern einfordern kann. Sie sollte stärker als bisher darauf hinwirken, dass das Recht an den EU-Außen-grenzen und auf dem Boden der EU eingehalten wird. Die Bundesregierung sollte darüber hinaus legale Zuwanderungswege ausbauen.“ Bärbel Dieckmann betonte in ihrem Statement in Berlin: Zwar müsse das Ziel Deutschlands und der EU sein, Menschen, die gar nicht wegwollten von da, wo sie aufgewachsen sind, dort zu einer Lebensperspektive in Sicherheit  zu verhelfen. Der Bericht habe aber auch “klar formuliert: “Wir sind in Europa auch bereit, Menschen aufzunehmen, die flüchten oder deren Leben bedroht ist.”

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