zum Hauptinhalt
Ukraine-Flüchtlinge warten in einem Bus im polnischen Przemysl darauf, dass es weitergeht.

© Hannah McKay/REUTERS

Bereits mehr als 2,3 Millionen Flüchtlinge: „Polen will nicht zugeben, dass das Land auf Unterstützung angewiesen ist“

Die meisten Flüchtlinge kommen nach Polen. Doch nach der Ansicht der polnischen Ex-EU-Kommissarin Danuta Hübner tut die Regierung so, als sei keine Hilfe nötig.

Danuta Hübner (73) war von 2004 bis 2009 EU-Kommissarin für Regionalpolitik. Die Polin, die der oppositionellen Bürgerplattform (PO) angehört, hat langjährige Erfahrung in der Europapolitik. Von 2003 bis 2004 war sie in Warschau Ministerin für Europaangelegenheiten. Seit 2009 gehört die Ökonomin dem Europaparlament an.

Frau Hübner, bis jetzt wurden mehr als 2,3 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen registriert. Damit hat Polen mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere EU-Land. Nach den Angaben von Vize-Premier Piotr Glinski von der nationalkonservativen PiS-Regierung werde Polen weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, sofern es nötig ist. Wie bewerten Sie die Leistung Ihres Landes angesichts der Millionen von Flüchtlingen?

Polen steht angesichts der Flüchtlinge einer Herausforderung gegenüber, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Polen hat diesen Test bestanden. Man muss allerdings zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft unterscheiden. Die Regierung hat zwar einen problemlosen Übergang der Flüchtlinge an der ukrainisch-polnischen Grenze sichergestellt und Aufnahmezentren eingerichtet. Aber wenn es darum geht, halbwegs normale Lebensumstände für die Flüchtlinge sicherzustellen, dann wird diese Aufgabe zu 99 Prozent von der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen geschultert.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen]

Wie helfen die Nichtregierungsorganisationen?

Es gibt generell eine große Mobilisierung innerhalb der polnischen Gesellschaft. Es gab aber auch eine europäische Antwort: An der polnisch-ukrainischen Grenze waren Helfer aus Portugal oder Süditalien präsent, die die Flüchtlinge mit Essen versorgten.

Wird die Regierung der Herausforderung gerecht?

Die Regierung war schlecht auf die hohen Flüchtlingszahlen vorbereitet. Schon lange vor dem 24. Februar, als Russlands Angriff auf die Ukraine begann, war klar, dass es früher oder später zum Krieg mit vielen Flüchtlingen kommen würde. Aber diese Zeit wurde in Warschau nicht genutzt, um die nötigen staatlichen Strukturen für die Flüchtlingsaufnahme aufzubauen. Das führte dazu, dass vom ersten Tag an die gewählten Vertreter auf lokaler und regionaler Ebene die Verantwortung für die Unterbringung übernahmen. Es dauerte eine Weile, bis auch die Regierung mit finanzieller Unterstützung auf den Plan trat.

2015 war die Situation anders. Damals verweigerte die polnische Regierung die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien mit der Begründung, dass diese schwer zu integrieren seien.

Das war völlig falsch. Das war eine Schande für uns alle. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich seinerzeit von Kollegen in Malta auf das Verhalten der Regierung in Warschau angesprochen wurde. Die Malteser verglichen damals zu Recht die Anstrengungen auf ihrer kleinen Insel bei der Flüchtlingshilfe mit der Verweigerung eines großen Flächenstaates Landes wie Polen. Der Umgang der polnischen Regierung mit den Flüchtlingen aus Syrien war durch nichts zu rechtfertigen. Damals wurden auch von der polnischen Regierung fake news verbreitet, dass es sich bei den Flüchtlingen um Gefährder handele.

Die Europaabgeordnete Danuta Hübner.
Die Europaabgeordnete Danuta Hübner.

© Thierry Monasse/Getty Images

Angesichts der zahlreichen Flüchtlinge aus der Ukraine, die jetzt in Polen versorgt werden müssen, ist inzwischen der Ruf nach einer europäischen Lastenteilung laut geworden.

Die polnische Regierung bittet die EU in der Frage der Flüchtlingsverteilung nicht offen um Hilfe. Sie will nicht zugeben, dass Polen kein starkes und wichtiges EU-Land ist, sondern auf Unterstützung angewiesen ist. Dies würde dem Narrativ der Regierung widersprechen. Außerdem soll verhindert werden, dass ein Präzedenzfall geschaffen wird: Sobald Polen andere Länder bei der Übernahme von Flüchtlingen um Hilfe bittet, wird das Land in Zukunft selbst in die Pflicht genommen werden.

Bei der Sitzung der EU-Innenminister am vergangenen Montag gab es keine Einigung auf verbindliche Regeln zur Verteilung der Flüchtlinge. Wird es auf lange Sicht ohne solche Regeln gehen?

Wie brauchen eine gesetzliche Grundlage für verbindliche Regeln der Solidarität. Wir können nicht länger die Augen davor verschließen, dass es sich bei der Bewältigung der Migration um eine Jahrhundertaufgabe handelt.

Was halten Sie von einer „Luftbrücke“ zur Verteilung der Flüchtlinge in der EU, wie sie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vorgeschlagen hat?

Das ist ein sinnvoller Vorschlag. Mit Hilfe solcher Flüge ließen sich wochen- oder monatelange Odysseen von Flüchtlingen verhindern. Auch Menschenhändler hätten es schwerer. Aber es müssen zwei Grundregeln gelten: Es muss eine Einladung aus dem Aufnahmeland in der EU vorliegen. Und die Flüchtlinge müssen auch ihre Zustimmung zum geplanten Zielort geben.

Die Regierung in Warschau verlangt angesichts der zahlreichen Flüchtlinge, dass die EU-Kommission für Polen die eingefrorenen Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds freigibt. Sollte die EU-Kommission den Wunsch der Regierung erfüllen?

Es stehen bereits genügend Gelder für die Flüchtlingshilfe aus dem EU-Haushalt zur Verfügung. Man kann doch nicht die gegenwärtige Flüchtlingssituation als Vorwand nutzen, um den Streit um die eingefrorenen EU-Gelder aus dem Wiederaufbaufonds abzuräumen. Die EU-Kommission steht wegen der Auszahlung der Gelder aus diesem Corona-Fonds in einem permanenten Dialog mit der Regierung in Warschau. Aber auch wenn die grundsätzliche Freigabe demnächst erfolgen sollte, wäre der Regierung damit kurzfristig bei der Begleichung der Flüchtlingskosten gar nicht geholfen. Denn die Regierung muss vor der Auszahlung der ersten Tranche erst einmal nachweisen, dass sie die Bedingungen erfüllt. Dazu zählen die Abschaffung der Disziplinarkammer am Obersten Gericht und die Wiedereinsetzung von Richtern, die aus dem Amt gejagt wurden. Die Umsetzung hängt jetzt von der Parlamentsmehrheit der Regierung ab.

Die polnische Regierung, die schon immer vor einer russischen Aggression gewarnt hat, sieht sich nach dem Überfall auf die Ukraine bestätigt. Verhilft das Warschau zu einer neuen Rolle in der EU – weg vom Problemland, das mit der EU in einen langjährigen Rechtsstaatsstreit verwickelt ist?

Beim Rechtsstaats-Streit und bei der Einschätzung der russischen Aggression handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Dinge. Wegen des Krieges lässt sich doch das europäische Recht nicht aushebeln. Ich glaube nicht, dass diese Vernebelungs-Taktik der Regierung bei der Kommission verfangen wird.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Polen will bis spätestens Mai Kohleimporte aus Russland stoppen. Sollte die Bundesregierung dem Beispiel folgen?

Man hätte die Abhängigkeit von der Kohle in Polen schon längst reduzieren müssen. Warum haben wir uns überhaupt auf die große Abhängigkeit von Russland bei den Kohleimporten eingelassen? Man hört aber wenig von der Regierung zur Frage, wie genau die russische Kohle ersetzt werden soll. Weder in Polen noch in Deutschland wurde in der Vergangenheit genug investiert, um sich aus der Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu befreien. Wenn es um eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland geht, muss man sich eine einfache Frage stellen: Ist uns das Leben dieser Kinder wichtiger, die durch die von uns finanzierten russischen Panzer sterben, oder unsere Versorgung mit Kohle?

Zur Startseite