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Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mit US-Präsident Donald Trump auf dem G-7-Gipfel Mitte 2018.

© Jesco Denzel/Bundesregierung /dpa

Auszüge aus dem Buch "Der gute Deutsche": Vom Waisenknaben zum Wunderkind

Von 1945 bis heute gelang der Aufstieg vom hässlichen zum guten Deutschen, zum politischen Musterknaben. Auszüge aus dem neuen Buch von Josef Joffe.

Nationen berufen sich auf ihre Helden und Sagen, auf eine gloriose Vergangenheit, die ihnen Halt und Haltung, eine Raison d’Être und Rechtfertigung verleiht. Die Bundesrepublik ist der krasse Sonderfall – ein Waisenkind der Geschichte. Sie hatte keine verwendbare, schon gar keine heroische Vergangenheit; sie entsprang der Konkursmasse des "Zwölfjährigen Reiches". Diese besudelte Hinterlassenschaft war ein Erbe, das die Republik keinesfalls antreten durfte.

Der normale Nationalstaat lebt von den Wurzeln, die in eine verklärte Vorwelt zurückreichen. Doch wurden die deutschen 1945 abgehackt. Andere Nationen verehren ihre Gründer, seien es mythische oder verbürgte. Auf wen aber sollte sich das junge Geschöpf beziehen? Doch nicht auf Wilhelm oder Adolf, die Väter des Unheils.

Vielleicht ganz weit zurück, auf Hermann den Cherusker? Den hatten die Deutschen im hochschießenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts als "Vater der Nation" entdeckt. Doch bei genauerem Hinsehen gibt auch Hermann keinen guten Gründervater her. Als er vor 2000 Jahren noch auf gut Lateinisch "Arminius" hieß, gelang es ihm, drei römische Legionen zu zerschlagen.

Andere Völker haben es besser

Doch die untereinander verfeindeten Germanen, die gelegentlich mit Rom gegen die eigenen Stämme paktierten, konnte er nicht einen. Er starb nicht den Heldentod, sondern unter den Händen seiner übel gesinnten Verwandtschaft.

Andere Völker haben es besser. Die Israeliten haben Moses; ihr Nationalmythos ist die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und der Bund mit dem Allmächtigen. Die sagenhaften Väter Roms heißen Romulus und Remus. Die Briten haben die Magna Carta und Winston Churchill, der die Nation vor Hitler rettete. An der Wiege der vaterlosen Bundesrepublik standen bloß die Besatzungsmächte, argwöhnische Erziehungsberechtigte von eigenen Gnaden.

Ebenso wenig konnte sich der junge Staat auf eine Gründermutter wie die legendenumwobene Johanna von Orléans berufen. Mit dem Schlachtruf "Bottez les Anglais au dehors", "Schmeißt die Engländer raus!", läutete sie das Ende der Fremdherrschaft in Frankreich ein.

In der Schweiz gab Wilhelm Tell den mythischen Gründervater

Dergestalt legte die verklärte Jungfrau das Fundament des französischen Nationalstaats; den Sockel gefestigt haben die Revolution von 1789 und die Siege Napoleons. Im Dôme des Invalides zu Paris hat ihm die Nation ein Heldengrab eingerichtet, obwohl der Triumphator zum Schluss als Verlierer dastand.

In der Schweiz gab Wilhelm Tell den mythischen Gründervater. Im Zentrum des Aufstandes gegen die Habsburger steht die anheimelnde Erzählung vom Rütli-Schwur. Die poetische Fassung des Gründungsaktes stammt von Schiller, der in Wilhelm Tell dichtet: "Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / in keiner Not uns trennen und Gefahr. / Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, / eher den Tod, als in der Knechtschaft leben."

Befreit wurde die Bundesrepublik von Ausländern

Auf ein Erlöser-Epos konnte die Bundesrepublik nicht zurückgreifen. Befreit wurde sie von Ausländern, von Amerikanern, Briten und Franzosen. Zu einem anständigen Gründungsmythos taugt nur der Triumph aus eigener Kraft. Ein Musterbeispiel ist der amerikanische über die Briten im Unabhängigkeitskrieg – der Sieg über die Unterdrücker als Geburtshelfer der Nation.

Das Muster wiederholt haben die Befreiungskriege gegen die Kolonialherren in der Dritten Welt. Derlei herzerwärmende Erzählung gibt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht her: erst die Schmach des verlorenen Ersten Weltkriegs, dann das klägliche Ende der ersten deutschen Demokratie, schließlich die Verbrechen und der Untergang des Dritten Reiches.

Josef Joffe ist Herausgeber der "Zeit".
Josef Joffe ist Herausgeber der "Zeit".

© Promo

Wer hätte denn 1945 den George Washington, Heros der amerikanischen Revolution, spielen können? Oder den Giuseppe Garibaldi, der die Unabhängigkeit Italiens erkämpft hatte? Die Republik der Westdeutschen konnte sich nicht einmal auf Bismarck berufen, der die Habsburger verjagt und 1871 das Zweite Reich im Krieg gegen Frankreich zusammengezwungen hatte.

Bismarck hat Hunderte von Bismarckdenkmälern

Die Huldigung des Gründers kannte damals keine Grenzen. Leider war das Reich seit 1919 perdu, als Staat wie als Idee. Konrad Adenauer, der erste Kanzler der zweiten Demokratie? Bismarck hat Hunderte von Bismarckdenkmälern, -türmen und -straßen hinterlassen. Doch erinnern nur zwei Denkmäler an Adenauer: eines in Berlin, das andere in Köln, wo in der Weimarer Republik seine politische Karriere als Oberbürgermeister begann. Die Nachgeborenen schätzen Adenauer, aber sie verehren ihn nicht, obwohl immerhin ein Regierungsflugzeug "Konrad Adenauer" heißt.

Jeder Bildungsroman handelt vom Dreisprung Jugend – Prüfung – Reifung, den der Held bewältigen muss, um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. In dieser Reihung ist die Zweite Deutsche Republik im "coming of age", im Erwachsenwerden, angekommen. Vorbei ist die Entfremdung der frühen Jugend, bestanden sind die Prüfungen. Der Außenseiter wird zum Insider – erst akzeptiert, dann respektiert. Die Normalität zieht ein.

Die Bilanz nach siebzig Jahren? Dieses Deutschland ist das beste, das es je gab: liberal, demokratisch, krisenfest und stabil. Zu dick aufgetragen? Skeptiker mögen dagegenhalten, dass die Leistung, gemessen an den Vorläufern der Bundesrepublik, so sensationell nicht war. Denn die hatten eine sehr niedrig liegende Latte hinterlassen.

Der erste Nationalstaat der Deutschen ging aus Preußen hervor

Werfen wir den Blick zurück auf die Vorgänger, die dem Start-up kaum Kapital, dafür umso mehr rote Zahlen vererbt hatten. Der erste Nationalstaat der Deutschen ging aus Preußen hervor, das unter Bismarck die Habsburger vertrieben und Restdeutschland nicht so sehr geeint als vielmehr mit "Eisen und Blut" zusammengezwungen hatte.

Das friderizianische Preußen war ein autoritäres, ja absolutistisches Gebilde, das in der Dauerfehde mit Europa lag und im Siebenjährigen Krieg, im "Albtraum der Koalitionen", fast zugrunde gegangen wäre. Der Alte Fritz begann seine Regentschaft 1740 mit einem Angriffskrieg gegen Maria Theresia von Österreich, zerteilte Polen und führte Krieg bis ins hohe Alter. Im 18. Jahrhundert machte ein Wort die Runde: Preußen sei kein Staat mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Staat.

Ein Freund der liberalen Demokratie war der "Eiserne Kanzler" nicht

Das Bismarck-Reich schuf in der ewig umkämpften Mitte den deutschen Machtstaat. Ein Freund der liberalen Demokratie war der "Eiserne Kanzler" nicht. Wo er den Reichstag nicht kujonieren konnte, hat er ihn manipuliert. Während er seine Bündnisfäden spann, um die Großmächte ringsum auszutarieren, verfolgte Bismarck Sozialisten und "Ultramontane", die "Reichsfeinde", wie Bismarck die Katholiken nannte. Um der aufsteigenden Arbeiterklasse den Schneid abzukaufen, bestach er sie mit seiner Sozialgesetzgebung. Doch war ihm politische Teilhabe ein Gräuel.

Das Zwölfjährige Reich war ein beispielloser Horror

Wilhelm Zwo? Das Urteil der Geschichtsschreibung reicht von Leichtsinn bis Größenwahn, von Chauvinismus bis Abenteurertum – Charakterzüge, die das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg ins Verderben drängten. Weimar: ein schönes demokratisches Experiment, das zwischen linken und rechten Totalitären zerrieben wurde.

Das Zwölfjährige Reich war ein beispielloser Horror, der in der Totalunterwerfung und Zerstückelung endete. Im Vergleich zu den Negativrekorden ihrer Vorgänger war die Bundesrepublik nachgerade zum Erfolg verdammt, denn wer ganz unten liegt, kann tiefer nicht mehr fallen. Er kann sich nur noch aufrichten. Dann aber musste die junge Republik klettern, und zwar mit Fesseln an den Füßen sowie unter Aufsicht ihrer alliierten Bewährungshelfer. Der Aufstieg sollte sich als atemberaubend erweisen.

Diese Wendung ist umso wundersamer, als die Zweite Republik in der Vergangenheit weder ein Fundament noch ein Vorbild finden konnte. In diesem Sinne ist sie ein geschichtsloses Gebilde. Worauf konnte sie sich denn berufen, welche Traditionen konnten ihr Halt und Haltung verleihen?

Die Stahlhelme der Wehrmacht kamen 1955 nicht infrage

Ein Beispiel: Als die Bundeswehr entstand, mussten ihre Rekruten US-Helme aufsetzen. Die Stahlhelme der Wehrmacht kamen 1955 nicht infrage. Sie symbolisierten eine schreckliche Vergangenheit, an welche die Republik keinesfalls anknüpfen durfte. Die Knobelbecher waren ebenso tabu wie das Balkenkreuz der Hitler-Armee.

Die Bundesrepublik entsprang zwar dem Strom der deutschen Geschichte, übernahm auch so manches vertraute Element wie das Bürgerliche Gesetzbuch, war aber ein Gewässer, das sich ein neues Flussbett suchen musste – und wollte. Wer das Wesen dieses Experiments auf einen Blick erfassen will, braucht nur zwei Begriffe: "Bruch" und "Gegenmodell" – den Bruch mit dem Gestern und das Gegenmodell für das Morgen. Das Gestern, jedenfalls im ideologischen und institutionellen Sinne, waren Preußen, Wilhelminien, Weimar und Hitler, und dieses Quartett gab keine nutzbaren, sondern nur abschreckende Traditionen her. Dieses toxische Erbe musste der Nachfolgerstaat ausschlagen.

Also ein Land ohne Vergangenheit? Natürlich nicht. Auf die Bundesrepublik passt der Spruch des amerikanischen Nobel-Literaten William Faulkner: "Die Vergangenheit ist nie tot, sie ist noch nicht einmal vergangen." Für die Zweite Republik war die Vergangenheit in der Tat Gegenwart, wiewohl alles andere als Kontinuität.

Die Bonner Republik konnte durchstarten

Die Vergangenheit hatte nur eine Funktion: Sie musste überwunden werden. Deshalb konnte es nach 1945 keine Restauration geben wie im nachrevolutionären Frankreich. Die junge Republik wurde tatsächlich in der "Stunde null" geboren. Das war in Wahrheit ein Segen sondergleichen, konnte sie doch auf ihrem Weg das alte Gepäck stehen lassen.

Wenn Sozialwissenschaftler über das Gewicht der Vergangenheit reden, benutzen sie den Begriff der "Pfadabhängigkeit". Der besagt, dass die Zukunft nicht frei gestaltet werden kann, sondern von früheren Entscheidungen und eingemauerten Strukturen abhängt – eben von dem, was gestern galt. Die Bundesrepublik hatte, wie hier abermals betont werden soll, das große Glück im großen Unglück. Der Pfad hinter ihr war abgerissen – diskreditiert und demoliert, der Weg ins Unheil. Es gab kein Zurück. Die Bonner Republik konnte durchstarten, Neues entwerfen und ausprobieren. (…)

Deutschland ist heute eingekreist von Freunden

"Der Untertan" ist ein Roman von Heinrich Mann. Er hat lange Zeit das Bild des hässlichen Deutschen geprägt.
"Der Untertan" ist ein Roman von Heinrich Mann. Er hat lange Zeit das Bild des hässlichen Deutschen geprägt.

© Foto/Druck: Gebr. Sülter, Hamburg. Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte/akg-images

Außenpolitisch ist das heutige das vernünftigste Deutschland in der Geschichte des deutschen Nationalstaats. Anders als die Vorgänger wirft die Bundesrepublik keine "deutsche Frage" mehr auf. Es ist weder Aggressor noch Opfer, weder Unruhestifter noch Arena, wo die Anrainer ihre Ambitionen austobten. Es ist tatsächlich "saturiert, friedlich und konservativ", wie es Bismarck dem Zweiten Reich bescheinigte.

Berlin stellt keine Grenzen infrage. Es ist kein Revisionist, der nach dem Prinzip agiert: Deutsch ist, wo Deutsche wohnen, also "heim ins Reich". Die Republik bedroht nicht und wird nicht bedroht. Zum ersten Mal ist Deutschland eingekreist nur von Freunden. Davon hätten Bismarck und Nachfolger nicht einmal träumen können.

Es gab nie eine freundliche strategische Konstellation

Eine so freundliche strategische Konstellation hat Deutschland in seiner Geschichte nie genießen dürfen. Wie steht es dann um die Seelenlage? In seinem Essay "Die hysterische Republik Deutschland" lästerte der Publizist Reinhard Mohr: "Ein bisschen Weltuntergang ist immer." Die Aufwallungen lassen sich kaum mehr zählen, sie scheinen einem geradezu gesetzmäßigen Rhythmus zu gehorchen.

Die Shortlist: Waldsterben (der Wald wuchs), Ozonloch (es schrumpfte), Tschernobyl (die Strahlung war mikroskopisch im Vergleich zum Fallout der atmosphärischen Atomtests 1945–1963), Nachrüstung (statt Atomtod die Abrüstung), Vogelgrippe, Genmais (der noch keinen Amerikaner vergiftet hat, die ihn seit Jahrzehnten verzehren), "Chlorhühnchen" aus den USA (dito), Rinderwahn (in England starben 56 Menschen, in Deutschland keiner), Feinstaub (die Aufregung kam und ging), Fukushima (keine deutschen Opfer), Stickoxide im Straßenverkehr (die Belastung hat sich seit 1990 etwa halbiert; die zulässigen Grenzwerte sind für bestimmte Arbeitsplätze 20-mal höher als auf der Straße).

"What’s wrong with the Germans?", fragt sich das Ausland

Die Psychologie mag über diese Wellenbewegungen der kollektiven Seele rätseln, wird aber keine Antwort finden, weil man nicht eine ganze Nation auf die Couch legen kann. Es mag auch sein, dass German Angst bloß eine Unterabteilung einer allgemein westlichen ist im Zeitalter nie da gewesener materieller und physischer Sicherheit.

Im Vergleich zu früheren Zeiten mit ihren Epidemien wie Pest oder Spanische Grippe, mit Kriegen, Revolutionen und weltweiten Wirtschaftskrisen ist der Wohlfühl-Index so weit angestiegen, dass selbst kleine Einbußen Psycho-Effekte in kosmischen Ausmaßen zeugen. Je gutartiger das Umfeld, darf man spekulieren, desto höher die Hysterieanfälligkeit.

Im World Happiness Report 2017 liegt Deutschland fünf Plätze hinter Israel, einem Land, das seit seiner Geburt im permanenten Kriegszustand lebt. "What’s wrong with the Germans?", fragen angesichts der Eruptionen von German Angst die ausländischen Freunde. Die nüchterne Antwort muss lauten: "Nothing", jedenfalls nicht, wenn die Meinungsforschungsinstitute den Finger auf den Puls der Nation legen.

Manns "Der Untertan" prägte die Sicht auf Wilhelminien

Was ist aus den Diederich Heßlings geworden? Er ist die literarische Hauptfigur in Heinrich Manns "Der Untertan", einem Roman, der wie kein anderer die Sicht auf Wilhelminien geprägt hat – das Zweite Reich, den ersten deutschen Nationalstaat, der sich aus dem Völkergemisch des Heiligen Römischen Reiches († 1806) herausgeschält hatte.

Warum Heßling und nicht Hitler? Der spielt in einer anderen galaktischen Liga, mit Stalin, Mao und Pol Pot. Heßling ist kein Millionenmörder, keine Ausgeburt des Bösen, sondern ein normaler Deutscher seiner Zeit, jedenfalls so, wie Heinrich Mann ihn mit seiner galligen Feder gezeichnet hat.

Kein Wunder, dass die Migranten nach Deutschland wollen

Heßling ist obrigkeitshörig und feige. Ein Mitläufer und Konformist, Burschenschaftler und Stammtischagitator, Intrigant und Kaiserverehrer. Er ist ein Tyrann gegen die Schwachen und ein Untertan, der sich der überlegenen Macht beugt. Heßling verabscheut den Liberalismus, dem sich das aufsteigende britische Bürgertum verschrieben hatte. Sein Leitstern ist ein glühender antidemokratischer Nationalismus. Was ist geworden aus dem intoleranten, verunsicherten, aggressiven, chauvinistischen Deutschen?

Das infas-Institut fragte 2017, wer eigentlich zum "Wir" gehöre – wer ist drinnen, wer draußen? Vier Fünftel nannten "Menschen anderer Religionen" als dazugehörig, sieben von zehn "Ausländer" und "Flüchtlinge" (dies im zweiten Jahr der Massenzuwanderung). Was Wunder, dass die Migranten aus Nahost und Nordafrika am liebsten nach Deutschland wollen.

Sollte man Meinungen tolerieren, die man nicht mag? Mehr als die Hälfte stimmte zu. Wen meinen die Deutschen, wenn sie "wir" sagen? Überraschung: Erst an dritter Stelle kam die Nation, davor liegen Familie und Freunde mit 92 und 91 Prozent. Fast sechs von zehn sagten, "die westliche Welt".

Drei Viertel der Deutschen sind mit dem System zufrieden

Wie steht es um die Entfremdung vom demokratischen System, welche den Totalitären in Weimar das Feld bereitet hatte? Drei Viertel der Bundesdeutschen sind mit dem System "sehr/einigermaßen zufrieden".

Nun die Gretchenfrage: Wie halten es die Bürger mit der deutschen Schuld? Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach resümiert die Daten: "Langsam rückt in die Sphäre des Historischen, was jedoch nicht mit einem Rückgang des Verantwortungsbewusstseins zu verwechseln ist. Von einer ,Schlussstrich-Mentalität‘ ist nichts erkennbar. Es gibt auch keine Anzeichen für eine Rückkehr zum offensiven Nationalstolz."

Diederich Heßling wohnt hier nicht mehr.

An dieser Stelle des Bildungsromans darf sich der skeptische Leser entspannt zurücklehnen und der Held ein wenig Stolz zeigen – nicht den arroganten des "Untertans", sondern den gelassenen des bundesrepublikanischen Michels. Der "Sonderweg" war schon immer ein wackeliges Konstrukt; heute wäre er eine Sinnestäuschung, ein Hirngespinst.

Die Deutschen schwimmen genau in der Mitte des westlichen Mainstreams. Daran ändert auch ein Wahlverhalten nichts, das den Rechtspopulisten im Wahljahr 2017 rund 13 Prozent der Stimmen verschafft hat. Die Werte für die Trump-Republikaner (2016) und die Nationale Front in Frankreich (2017) lagen bei 48,5 und 34 Prozent, vom autoritären Ruck in Polen und Ungarn ganz zu schweigen.

In Österreich sind die Rechtsnationalen seit 2017 zweitstärkste Regierungspartei. In Italien kassierten 2018 zwei Anti-System-Parteien die Hälfte der Stimmen. "Bonn ist nicht Weimar", verkündete vor sechzig Jahren ein Buch des Schweizers Fritz René Allemann, dessen Titel seitdem zum geflügelten Wort geworden ist. Berlin ist gleich zehnmal nicht Weimar. Die Zweite Republik ist im Vergleich zur Ersten wie auch zum Rest der Welt ein Betonklotz demokratischer Solidität.

Der unbedingte Pazifismus ist im Kern eine Fake-Moral

Vom Waisenkind 1945 zum Wunderkind des 21. Jahrhunderts – alles immer relativ zur westlichen Nachbarschaft –, das ist eine Leistung, die kein Mensch dem Lepra-Staat von 1945 zugetraut hätte. Der hat seine Prüfungen geschafft und ist zum politischen Musterknaben herangewachsen. Diese Karriere würde einen Stolz rechtfertigen, der nicht auf überbordenden Machtfantasien oder moralistischer Mimikry basiert, sondern auf genuinen Selbstwertgefühlen.

Der unbedingte Pazifismus ist im Kern eine Fake-Moral, weil sein Träger unausgesprochen signalisiert, alle anderen Werte im Namen der totalen Friedfertigkeit opfern zu wollen: von der Familie bis zur Nation, von der Freiheit bis zu den Menschenrechten. Diese Position ließe sich im Ernstfall so lange durchhalten wie ein Ritt auf der Kreissäge. Warum sie also einnehmen? Die Funktion liegt auf der Hand.

Vom geprügelten Kind zum Vorreiter des Guten

So konnten die Nachgeborenen die schwärende Schuld der Väter gegen die amerikanischen "Umerzieher" wenden. Der Katalog der Selbstauszeichnung: Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt, ihr nicht; wir dienen dem Frieden, ihr dem Krieg; wir sind geläutert, ihr huldigt nackten Interessen. Kurz: Wir haben eine höhere sittliche Stufe erklommen – vom geprügelten Kind zum Vorreiter des Guten.

"Sekundär-Antisemitismus" – Israel als Wiedergänger der Nazis – erfüllt die gleiche Funktion wie der Antiamerikanismus. Sie sind das Ass aus dem Ärmel – die Gleichsetzung, welche die Bürde der Vergangenheit auf den bösen Übervater Amerika und den Staat der Opfer überträgt.

Das heißt: Wir sind nicht nur quitt, sondern auch moralisch aus dem Schneider. Wie ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit zeigt, muss die hehre Botschaft noch immer dazu herhalten, Interessen zu verbrämen, in diesem Fall im Dienste einer russlandfreundlichen Politik.

Hitlers Urenkel müssen nicht andere bezichtigen, um sich zu salvieren

Matthias Platzeck, der einstige SPD-Vorsitzende und Landeschef, kippte Israel und Russland in einen Topf und entnahm der unverträglichen Suppe das Prinzip, wonach Deutschland auch gegenüber Moskau eine "besondere Verpflichtung" habe. "Die vielen, vielen Millionen Opfer des Russlandfeldzuges müssen uns genauso (wie gegenüber Israel) zu einem spezifischen Verantwortungsgefühl verleiten." Deshalb müsse sich Berlin in der EU für Moskau ins Zeug legen, statt sich an neuen Sanktionen zu beteiligen.

Die Analogie des Vorsitzenden des Kreml-nahen Deutsch-Russischen Forums ist ein prächtiges Beispiel der Verklärung. Der Vergleich stilisiert das großmächtige Russland zum Gläubiger, dem Wohlverhalten gebühre. Bloß zeigt Israel keine expansionistischen Allüren im deutschen Vorhof. Es versucht auch nicht, die Nato zu spalten und westliche Wahlvölker durch Desinformation zu manipulieren.

Der Rekurs auf die Vergangenheit zeigt allerdings, wie Akteure im öffentlichen Raum reflexhaft das Gewissen mobilisieren, um Interessen zu artikulieren. Der Preis ist die Kluft zwischen Auftritt und Absicht. Die beste Nachricht: Der moralisierende Gestus ist nach zwei Generationen musterhafter Entwicklung ebenso unwürdig wie unnötig.

Hitlers Urenkel müssen nicht andere bezichtigen, um sich selber zu salvieren. Die Republik kann Selbstwert aus unzähligen anderen Quellen ziehen – den bestandenen Prüfungen, der freiheitlichen Demokratie, dem humanitären Wertekanon, dem Respekt, den sie weltweit genießt.

Die Bundesrepublik hat ihre eigenen Traditionen geschaffen

Einst auf Bewährung freigelassen, haben die Erben die Auflagen erfüllt, ja übererfüllt. Noch besser: Auf den Trümmern der vergifteten Vergangenheit haben sie eine neue, spezifisch bundesdeutsche aufgebaut, die den Vergleich mit den älteren Demokratien nicht mehr scheuen muss.

Als traditionsloser Staat geboren, hat sich die Bundesrepublik ihre eigenen Traditionen mit kräftigen Wurzeln geschaffen. Sie muss nicht mehr im Geröll früherer deutscher Konstruktionen herumstochern, um hier und da Gebrauchsfähiges für ihre Zukunft zu finden – vor allem einen Gründungsmythos, auf den sich alle Nationen beziehen. Die Franzosen zelebrieren den ihren am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille 1789, die Amerikaner am Fourth of July, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung 1776.

Die Zweite Republik hat längst ihr eigenes Fundament

An der Bundeswehr, einer Parlaments- und Bündnisarmee, klebt weder Blut noch Schande.
An der Bundeswehr, einer Parlaments- und Bündnisarmee, klebt weder Blut noch Schande.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Und die Nachkriegsdeutschen? Sie können sich im Rückblick doch auf einen eigenen Gründungsmythos berufen: die Verkündigung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 – ein Datum, das den idealen Nationalfeiertag hergeben würde. Diese Verfassung hat länger gehalten als ihre Vorgänger.

Besser noch: Die Republik hat sich nach Jahrzehnten liberaldemokratischer Entwicklung sozusagen ihr eigenes Vorbild geschaffen. Die Berliner Republik muss keine Entschuldungsrhetorik aufbieten, um sich selber die Wiedergutwerdung zu bescheinigen.

Das Problem dabei liegt auf der Hand. Wer an einem Schuldkomplex laboriert, wird ständig versuchen, die Last abzuschütteln oder sie anderen aufzuhalsen. Es ist ersprießlicher, die ererbte Schuld in der dritten Generation in Verantwortung zu verwandeln.

Verantwortung ist das Gegenteil von Schmach

Der Unterschied ist ein himmelweiter. Schuld ist Schande, die nach Verdrängung oder Übertragung schreit. Verantwortung ist das Gegenteil von Schmach. Sie ist ein Ehrenzeichen, das Selbstachtung und selbst gewählte Verpflichtung symbolisiert.

Ein Gemeinwesen, das so verfährt, kann sich ehrlich machen. Es muss nicht Selbstlosigkeit auffahren, wo legitime Interessen im Spiel sind. Es kann sich auch ein freundliches Verhältnis zur Nation leisten, eines, das nicht von Nationalismus, sondern von Patriotismus geprägt ist.

Auch hier klafft ein gewaltiger Unterschied: Nationalismus lebt von Selbsterhebung, Patriotismus von Selbstliebe, die weder aggressiv noch arrogant ist. Warum ein republikanischer Patriotismus? Die frühe Europa-Begeisterung ist versickert – hier wie sonst wo in der Union. Die EU ist ein praktisches Gebilde, kein Seelentrank.

Die EU wird so schnell nicht den Nationalstaat aushebeln

Europa gibt keinen Ersatznationalismus her, den sich die Republik umhängen müsste, weil die Über-alles-Variante entehrt worden ist. Denn die EU wird so schnell nicht den Nationalstaat aushebeln – nicht in einer Zeit, da zwischen Portugal und Polen der Widerwillen gegen eine "immer engere Union" wächst.

Worauf soll dann ein bundesdeutsches Nationalgefühl beruhen, das sich mit dem eigenen Land identifiziert und zugleich weltoffen und wertebezogen ist? Die Zweite Republik hat sich längst ihr eigenes Fundament gegossen. Wie das aussieht, zeigt der Traditionserlass der Bundeswehr von 2018, der auf den von 1982 folgte.

Der Schlüsselsatz ist der erste: "Die Tradition der Bundeswehr ist der Kern ihrer Erinnerungskultur." Sodann: "Zentraler Bezugspunkt ist ihre eigene lange Geschichte." Schließlich: "Traditionen ehemaliger deutscher Streitkräfte werden an (die) Bundeswehr nicht verliehen." Die neue selbst gezimmerte Tradition reicht, und sie trägt. An der Bundeswehr, einer Parlaments- und Bündnisarmee, klebt weder Blut noch Schande.

Die beste Nachricht ist ein System, das sich die Extreme verbietet

Der deutsche Bildungsroman kündet von einem "schmerzlichen, überaus erfolgreichen Lernprozess", schrieb Hans Magnus Enzensberger kurz vor der Wiedervereinigung. Verblasst sind "ideologischer Fanatismus" und "totalisierende Träume". Abenteuer sind out, das raunende Ressentiment, das die Deutschen als Opfer finsterer Mächte sieht, verfängt bei der großen Mehrheit nicht mehr.

"Versailles" steht heute für ein Prachtschloss nahe Paris und eine TV-Serie, nicht für den Ort, wo der Westen vor hundert Jahren dem Reich die Kriegsschuld zuschob, um es dann zu zerstückeln. "Potsdam" ist ein Vorort Berlins, nicht das Städtchen, wo die Sieger Gericht über Nazideutschland abhielten. Die beste Nachricht ist ein System, das sich die Extreme verbietet, wo die Politik nach einer Bundestagswahl nur ein paar Grad nach links oder rechts schwenkt.

"Pourvu que ça dure", hoffen wir, dass es so bleibt, soll Napoleons Mutter Letizia gesagt haben, als der sich seiner großen Siege rühmte. Des Kaisers Imperium hat nicht einmal zwanzig Jahre lang gehalten, die Erste Deutsche Republik nur 14, das Dritte Reich zwölf.

Die Bundesrepublik hat ihr knappes Startkapital fabelhaft vermehrt

Nach einem Menschenalter hat die Bundesrepublik sie alle überrundet; diesmal stimmte die Architektur. Langlebigkeit beweist bekanntlich gar nichts. Anderseits besagt ein geflügeltes englisches Wort: "Nothing succeeds like success", nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg.

Im Unglück geboren, hat die Bundesrepublik traumhaftes, unverdientes Glück gehabt, doch sich danach das Glück selber erarbeitet. Sie hat ihr knappes Startkapital fabelhaft vermehrt – wie es sich für einen kanonwürdigen Bildungsroman gehört. "Der Untertan", der hässliche Deutsche Diederich Heßling, ist nur noch Literatur.

Das neue Buch von Josef Joffe "Der gute Deutsche. Die Karriere einer moralischen Supermacht" erscheint am Montag (27. August 2018) im C. Bertelsmann Verlag (256 Seiten, 20,00 €).

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