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Flüchtlinge auf einem Rettungsschiff der spanischen NGO "ProActiva Open Arms".

© Bram Janssen/AP/dpa

Aurora Dialog Berlin: „Migration ist kein Notstand, sondern die Norm"

65 Millionen Menschen sind Flüchtlinge: Beim "Aurora Dialog Berlin 2017" diskutieren Experten von drei Kontinenten die Themen Flucht, Integration und Entwicklung.

„Migration ist kein Notstand, sondern im historischen Zusammenhang die Norm unserer Geschichte - mit Problemen und Chancen. Wir können die Herausforderung annehmen“, sagte der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert auf dem „Aurora Dialog Berlin 2017“, den die Aurora Humanitarian Initiative (AHI) angesichts von weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht in der Robert-Bosch-Stiftung Berlin mit der Global Perspectives Initiative veranstaltet hatte.

Mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung, der Mercator Stiftung, Unicef Deutschland und United World College (UWC) diskutierten Experten aus drei Kontinenten das Thema „Millionen in Bewegung“ über den Bedarf an Integration und Entwicklung. Die Aurora-Dialoge fanden bisher 2016 und 2017 im Rahmen der Verleihung des Aurora-Preises zur Förderung der Menschlichkeit in Jerewan statt.

Mit der ersten Konferenz in Berlin wollte die AHI ein Zeichen des Dankes an Deutschland setzen, das große Verantwortung für Geflüchtete übernommen habe. Norbert Lammert erinnerte daran, dass es geflüchtete Hugenotten waren, die auf Einladung des Großen Kurfürsten im 17. Jahrhundert nach Berlin gekommen waren, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Migration sei nicht zu verhindern, wer das aber glaube, verweigere sich der Realität. Differenzierung sei aber notwendig, nicht alle Migranten seine Flüchtlinge, sagte Lammert. „Integration ist das Maß für Migration jenseits der Nothilfe“, betonte Lammert. Integration kenne Begrenzung, sonst sei sie nicht möglich.

Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert.

© Nadine Buetow

Lammert erinnerte auch daran, dass die Deutschen viele zur Migration gezwungen hätten und auch durch Migration überlebt hätten. Daher könne es für Flüchtlinge keine Begrenzung geben. Deutschland sei zudem das Land, das bewiesen habe, dass auch eine noch so gut bewachte Mauer Migration nicht aufhalten könne. Und er zitierte Navid Kermani: „Wer von Menschen wie von einer Seuche spricht, hat Europa verraten, wenn er es zu schützen vorgibt“.

Drei Prozent der Weltbevölkerung sind Migranten

Drei Prozent der Weltbevölkerung sind Migranten. Ginge es nach dem freien Willen der Menschen, würden 14 Prozent weltweit ihr Land verlassen, aber sie tun es nicht, weil sie die Möglichkeit nicht haben, berichtet Matthias Luecke vom Kieler Institut für Weltwirtschaft, und weil dem gesetzliche Regeln entgegenstehen.

Die ehemalige Staatspräsidentin Irlands und ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, erinnerte an die globale Dimension des Problems. Der Klimawandel werde noch mehr Menschen zur Flucht zwingen – 2050 könnten es bereits 200 Millionen Menschen sein. Die Vereinten Nationen würden sich jetzt dieses Themas annehmen, weil es so groß geworden ist. In Polen habe sie dagegen gerade eine erschreckende Aversion gegen Geflüchete erlebt.

Die ehemalige Staatspräsidentin Irlands und frühere UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson.
Die ehemalige Staatspräsidentin Irlands und frühere UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson.

© Nadine Buetow

Scheinbar hätten Polen ihre eigene Geschichte vergessen. „Wir müssen die Realität managen, das Problem wird wachsen“, sagt Robinson und wünscht sich mehr humanitäre Geschichten in den Medien. Man müsse positive Geschichten erzählen, um die Menschen zu überzeugen. Robinson begrüßte den deutschen Marshall-Plan für Afrika und forderte mehr Unterstützung für Libanon, Jordanien und die Türkei. Man habe sich weltweit auf ein Klimaabkommen und die Agenda 2030 geeinigt und ein ähnliches Rahmenwerk brauche man auch für das Thema Migration.

Ex-Außenminister Kouchner kritisiert Frankreich

Frankreichs ehemaliger Außenminister Bernard Kouchner zeigte sich bestürzt über Frankreich, dass gerade einmal 7000 Flüchtlinge aufgenommen habe. „Die Städte hatten sich 2015 vorbereitet, die Menschen waren unter humanitären Aspekten bereit zu helfen und vor allem die katholischen Organisationen waren tief enttäuscht, weil sie keine Gelegenheit zur Hilfe hatten. Die Politiker hatten einfach Angst vor dem Front National“, sagte Kouchner.

Aber wie kann man die Haltung der Menschen zum Thema Migration verändern, Ängste abbauen? Andreas Goergen vom Auswärtigen Amt appellierte an die Politiker, auf ihre Sprache und ihre Wortwahl zu achten, die habe Einfluss, wie er an dem Wort „Flut“ erläuterte, einem Begriff des 19. Jahrhunderts. Auch der Begriff des homogenen Staates stamme aus dem 19. Jahrhundert und daher sei er Präsident Emmanuel Macron dankbar für den Begriff der europäischen Identität.

Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth.
Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth.

© Nadine Buetow

Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth erinnerte daran, dass die Zivilgesellschaft nicht nur aus Nichtregierungsorganisationen bestehe, sondern aus engagierten Bürgern, die 2015 mit großem Einsatz den Geflüchteten geholfen haben. Sie mahnte aber auch, sich dem Gespräch mit Ignoranten nicht zu verwehren.  Man müsse Geschichten erzählen, Vertrauen aufbauen.

Der Soziologe Dirk Jacobs, der den „Aurora Humanitarian Index“ zum Thema Flüchtlinge durchgeführt hatte, mahnte, die Ängste der Bürger ernst zu nehmen, sonst spiele man den Populisten in die Hände. Der Dialog mit den Menschen, die Migranten ablehnend gegenüberstünden, müsse geführt werden, sagten mehrere Experten. Und die, die glaubten, ihre Kultur so vehement verteidigen zu müssen, sollten sich fragen, ob sie noch so lebten wie ihre Eltern oder Großeltern: „Kultur verändert sich laufend, sie ist nicht statisch“, sagte Lori Wilkinson, Chefredakteurin des „Journal of International Migration and Integration“ aus Kanada. Und Andreas Goergen rief dazu auf, auch an die Integration derer zu denken, die hier schon geboren sind, sich aber ausgeschlossen fühlen.

Heftige Diskussion um Marshall-Plan für Afrika

Zu den möglichen Lösungen vor Ort entspann sich eine heftige Diskussion um den von Günther Nooke vorgestellten Marshall-Plan für Afrika, der von deutscher Seite im Rahmen des G20-Gipfels vorgeschlagen wurde. Er baut vor allem auf private Investitionen, um Jobs zu schaffen. Die Menschenrechtlerin Hina Jilani aus Pakistan wehrte sich gegen den Namen und verlangte eine Investition in die Zivilgesellschaften in Afrika.

John Prendergast, der mit dem „Enough Project“ die Geldströme nach Afrika verfolgt, hielt diesen Plan für problematisch. „Es gibt viel Geld in Afrika, Arbeitskräfte und Rohstoffe. Wir müssen friedliche Regierungen unterstützen. Der Sudan hat viel Geld von der EU bekommen und es in seinen Sicherheitsapparat gesteckt. Mit europäischem Geld werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit finanziert“, sagte er. „So stärkt man die Migration, die die Repression auslöst.“ Stattdessen müsse man die Mittel zum Stopp des Geldflusses anwenden, die man seit 9/11 im Kampf gegen den Terrorismus einsetze. Die Mittel seien da, aber es fehle der politische Wille, sie einzusetzen. „Es gibt Gesetze, die dem Geld nachgehen, wir können etwas tun. Das würde Milliarden sparen“, sagte er.

Was man in Kooperation mit Privatinitiativen erreichen kann, demonstrierte der Philantrop Pierre Gurdjian mit seinem PASED-Modell für Entwicklung. Es gebe 53 Länder auf der Welt, die nicht arm genug seien, um Hilfe zu empfangen, aber nicht reich genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu zähle auch Armenien, für das er einen Entwicklungsplan mit der ebenfalls von Ruben Vardanyan gegründeten Idea-Foundation zur Entwicklung Armeniens erfolgreich erarbeitet hat.

"Großer Bedarf an Dialog zwischen Europa und Afrika"

Eines dieser Projekte ist der Aurorapreis zur Förderung der Menschlichkeit, der auch dem Land zu Gute komme. Gurdjian definiert fünf Bereiche: Tourismus, Finanzen, Technologie und Energie, Agroökologie und Bergbau. Die kombiniert er an fünf ausgewählten kleineren Orten mit weichen Zielen wie Bildung, Gesundheit, Stadtentwicklung, Kulturelles Erbe und Identitätsfindung.

So habe eine fünf Kilometer lange Seilbahn das entlegene, aber berühmte Kloster Tatev touristisch erschlossen und reichlich Arbeit in Verbindung mit einem neuen Nationalpark in die Region gebracht. Diese Blaupause für Entwicklung aus privater, ziviler und staatlicher Zusammenarbeit lasse sich locker auf andere Länder in einer ähnlichen Situation übertragen und die Lebensverhältnisse der Menschen spürbar verbessern.

„Alleine werden wir es nicht schaffen“, sagte abschließend Winfried Kneipp von der Mercator Stiftung, „unsere Koalition ist noch zu klein, wir brauchen noch mehr Expertise für Politik Beratung in der Europäischen Union.“ Und Ingrid Hamm von der Global Perspective Initiative ergänzte: „Wir müssen globaler denken, wir haben immer noch einen großen Mangel an Information und wir haben einen großen Bedarf an einem Dialog zwischen Europa und Afrika.“

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