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Flüchtlingskinder spielen auf türkischer Seite vor dem Grenzzaun zu Griechenland Fußball.

© Darko Bandic/AP/dpa

Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge: Die Koalition der Unwilligen ist stärker

Europa ist nicht nur in der Migrationspolitik gelähmt. Deutschland muss sich ehrlich machen, inwieweit es selbst zur Uneinigkeit beiträgt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Der Begriff macht eine erstaunliche Karriere. Vor 17 Jahren verbanden die Deutschen eine „Koalition der Willigen“ mit einem großen Fehler in der Weltpolitik. Deutschland und Frankreich waren stolz darauf, dass sie sich George W. Bushs „Coalition of the Willing“ im Irakkrieg verweigerten. Heute preist die Bundesregierung eine „Koalition der Willigen“ als letzte Hoffnung für eine humanitäre Flüchtlingspolitik Europas an.

Die Koalition für Flüchtlingsaufnahme ist kleiner als die im Irakkrieg

Da hat sich einiges verschoben im Machtgefüge – und es ist fast durchweg unerfreulich für die Zukunftsperspektiven und die Handlungsfähigkeit der EU sowie für die Frage, ob deutsche Politikansätze mehrheitsfähig in Europa sind.

Im Irakkrieg war Europa in zwei gleich große Lager gespalten. 14 der heutigen 28 EU-Mitglieder kämpften an Bushs Seite, 14 nicht. Bei der „Koalition der Willigen“, die besonders hilfsbedürftige Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufnehmen soll, hofft Deutschland, dass Frankreich, die Benelux- und die skandinavische Staaten mitmachen, im besten Fall also sieben bis acht EU-Länder. Zuvor hat die Bundesregierung den anfänglichen Ehrgeiz reduziert, um überhaupt Willige zu finden. Die Rede ist nicht mehr von 5000 Jugendlichen, sondern von 1000 bis 1500 Kindern unter 14 Jahren, die schwer erkrankt oder unbegleitet sind. Eine Mehrheit der Deutschen lehnt die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge ab.

Zu viele EU-Staaten denken nur an ihre nationalen Interessen

Von der Einigkeit und dem Selbstvertrauen, mit denen die EU seit 1990 Riesenschritte zur Integration nahm – Binnenmarkt, grenzenloses Reisen im Schengen-System, Währungsunion, Osterweiterung –, wirkt sie heute Lichtjahre entfernt. Viele Mitglieder konzentrieren sich auf ihre nationalen Interessen. Größere Fortschritte auf dem bisherigen Weg neuer EU-Verträge sind auf absehbare Zeit irreal. Dafür bräuchte man Einstimmigkeit. Die ist nicht in Sicht.

Deshalb gewinnen Begriffe wie die „Koalition der Willigen“ oder „Kerneuropa“ an Attraktivität. Eine kleine Gruppe soll auf einem Gebiet gemeinsam vorangehen – in der Hoffnung, dass andere, die skeptisch sind, sich später anschließen. Die Option beschränkt sich freilich auf Bereiche, die nicht bereits in EU-Kompetenz sind und bei denen eine ausreichende Zahl von Staaten einig ist, damit sie Zugkraft auf die übrige EU entfalten können.

Unterstützen die Deutschen Europa, wenn sie in der Minderheit sind?

Da bieten sich Grenzsicherung, Migration, Klimaschutz, Steuerpolitik an. Doch Deutschland muss sich da ehrlich machen. Es sind zum Gutteil Bereiche, wo die deutschen Vorstellungen nicht einmal von Wunschpartnern wie Frankreich oder den Beneluxstaaten geteilt werden – die Koalition der Unwilligen also stärker ist, wie bei der Flüchtlingsaufnahme.

Zugespitzt zwingt das zur Frage: Ist Deutschland bereit, europäische Ansätze auch dann zu unterstützen, wenn es sich an die Mehrheit anpassen muss? Oder nur dann, wenn „europäisch“ bedeutet, dass die Willigen sich deutschen Wünschen beugen?

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