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Atompolitik: Alle aussteigen, bitte

Nach dem eiligen Schwenk in der Nuklearpolitik wollen die Koalitionsparteien wenigstens im Nachhinein als Sieger dastehen. Das Dumme ist nur: Ihr Plan sieht dem rot-grünen Vorgängermodell zum Verwechseln ähnlich.

Von Robert Birnbaum

Das Fahrrad gehört nicht zum Ministeriumsfuhrpark, sondern dem Herrn Röttgen privat, vor einem Jahr erst gekauft beim Öko-„Umweltfestival“ am Brandenburger Tor. Wahrscheinlich hat er seither wenig Gelegenheit gehabt, in die Pedale zu treten. Darum schwankt das rote Rücklicht ein wenig, als Norbert Röttgen am Montag früh um kurz nach halb drei in die laue Berliner Nacht davonstrampelt. Man soll sich aber von dem Anblick nicht täuschen lassen. Der Umweltminister sitzt so gerne und so fest im Sattel wie seit langem nicht mehr. Seine schwarz-gelbe Koalition ist jetzt die Regierung des Atomausstiegs.

Wenn es nach Röttgen gegangen wäre, hätten CDU, CSU und FDP das bekanntlich vor einem guten halben Jahr schon haben können. Er muss also niemandem erklären, wieso diese Regierung damals die Verlängerung der Atomlaufzeiten für absolut alternativlos erklärt hat und jetzt das glatte Gegenteil für genau so unumgänglich. Er kann sich aufs Zukunftsträchtige beschränken: Der Ausstieg ist beschlossen, drei Stufen bis spätestens 2022, keine Hintertüren. „Das Ergebnis ist konsistent und konsequent“, lobt Röttgen. Dann wünscht er einen guten Morgen und radelt heim.

So entspannt ist Röttgen in den davorliegenden fast 14 Stunden nicht immer gewesen. Seit Sonntagmittag um 13.00 Uhr hat die Koalition im Kanzleramt um den Ausstieg gerungen und gepokert. Es sei durchweg gesittet hergegangen, erzählt ein Teilnehmer mit jahrelanger Koalitionsausschusserfahrung, „aber so spannend war es noch nie“.

Man darf sich das nun nicht so vorstellen, dass stundenlang alle um einen Tisch gesessen haben, sondern – jedenfalls am Anfang – mehr wie eine dieser modernen Theaterinszenierungen, wo auf der ganzen Bühne verteilt wechselnde Gruppen beisammenstehen. Als „so eine Art informelle Pendeldiplomatie“ beschreibt einer den Ablauf, hier haben welche auf Zetteln Zahlen skizziert, dort auf dem Balkon andere die Köpfe zusammengesteckt. Kurz vor Mitternacht hatte Kanzleramtsminister Ronald Pofalla einen ersten Textentwurf beisammen. Ab da ging es am Kabinettstisch zur Sache, Satz für Satz, Komma für Komma.

Dass es so lange dauert und so mühsam ist, liegt einerseits an der Sache selbst. Die ist kompliziert genug, vom Ausstiegspfad über den schnelleren Ausbau von Hochspannungsleitungen bis zu der nur auf den ersten Blick obskuren Frage, wie man Entschädigungsansprüche für den Strom vermeidet, den das Kraftwerk Mülheim-Kärlich hätte erzeugen können, wenn es je in Betrieb gegangen wäre. Noch komplizierter ist etwas anderes. Seit Menschengedenken hat keine Regierung bei einem einzigen Thema derart ihr Gesicht verloren wie diese bürgerliche Koalition mit ihrem hastigen Atomschwenk angesichts der Fernsehbilder explodierender Reaktoren in Fukushima. Umso genauer ist jede Seite darauf bedacht, wenigstens jetzt und im Nachhinein als Sieger dazustehen.

Man kann das sehr schön daran ablesen, wie und was die verschiedenen koalitionären Flüsterer so über die jeweils anderen berichten. Da gibt es zum Beispiel schwarze Flüsterer, die es doch sehr auffällig fanden, dass die Gelben sich dauernd zu separaten Beratungen zurückziehen mussten – diese neue FDP-Führung um den jungen Herrn Rösler, Sie verstehen, die haben halt doch noch sehr viel Abstimmungsbedarf! Gelbe Flüsterer erklären den gleichen Vorgang viel harmloser: Weil alle durcheinandersaßen – Philipp Rösler neben Horst Seehofer, FDP-General Christian Lindner zwischen Pofalla und Röttgen – seien „Flüsterabsprachen“ halt schwierig gewesen.

Interessant ist auch, wer worüber nicht berichten mag. CSU-Chef Horst Seehofer will nicht raus mit der Sprache, wieso er sich nicht damit durchgesetzt hat, die Kernbrennstoffsteuer zu streichen. Freidemokraten erklären das um so freigiebiger: Man habe Seehofer nur kurz daran zu erinnern brauchen, dass die CSU doch auch für Steuersenkungen sei, wofür aber Geld im Bundeshaushalt übrig sein müsse. Außerdem, sagt ein Liberaler, sei die FDP nicht so blöd, einen Fehler zweimal zu machen: Nach dem fatalen Hotelsteuergeschenk jetzt ein Steuernachlass für die Stromwirtschaft – nein danke!

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Bei der FDP wiederum ist partout nicht in Erfahrung zu bringen, was aus dem „Ausstiegskorridor“ geworden ist, den der neue Parteichef bis kurz vor dem Gespräch noch gefordert hat anstelle eines festen Ausstiegsdatums. Liberale schildern lieber die Szene, wie sich Rösler und Röttgen darüber in die Haare gekommen sind, ob der Wirtschafts- oder der Umweltminister für die jährlichen Fortschrittsberichte zuständig sein soll. „Mit seidiger Härte“ habe Rösler auf seine Zuständigkeit für die Netze verwiesen, und als Röttgen protestierte, habe sogar die Kanzlerin eingegriffen: Wenn ihr die Minister mit Zuständigkeiten kämen, wird Merkel zitiert, dann komme sie ihnen mit der Richtlinienkompetenz und ziehe den Bericht im Kanzleramt an sich! Der Kompromiss lautet, dass es zwei Berichte gibt, von jedem Minister einen.

Über Röslers „Korridor“ gab es keinen Kompromiss. Was sich der FDP-Mann da nämlich vorstellte, war aus Röttgens Sicht schlicht nicht akzeptabel. Denn der Plan sei so gegangen: Zwar nimmt die Koalition jetzt alle alten Meiler vom Netz und danach auch ein paar von den neuen; aber im Jahr 2018 schaut sich, wer immer dann regiert, die Lage auf dem Energiemarkt genau an – und dann schaut er mal. „Röslers Korridor war nach hinten offen“, empört sich ein Unionsmann. Röttgen war kurz nicht im Saal, als der Punkt in der Vereinbarung beraten wurde – einer musste immer die Experten aus der Fraktion auf dem jüngsten Stand und bei Laune halten, die stundenlang in einem Nebenzimmer hockten. Als er zurückkam und den Vorschlag las, widersprach Röttgen sofort. Am Ende war der Korridor zu: 2022 wird das letzte Akw abgeschaltet. Keine Hintertür, nicht mal eine Katzenklappe.

Am Montagvormittag rudert Horst Seehofer auf dem Bürgersteig vor der bayerischen Landesvertretung in der Luft derart mit den langen Armen umher, dass man kurz denkt, er hat vielleicht drei bis fünf davon. Der CSU-Chef hat deutlich mehr zu erklären als der radelnde Umweltminister. Nach den Baden-Württembergern waren die Bayern die lautstärksten Laufzeitverlängerer. Aber das lag offenbar nur an falschen Ratgebern: „Mir hat man immer gesagt: Mein Gott, schau’n Sie, vier Notstromaggregate!“ Ja, und dann flog Fukushima eben doch in die Luft. Jetzt kann sich Seehofer gar nicht genug erregen über „Wirtschaftspolitiker“ in den eigenen Reihen, die haarklein wissen wollten, wie denn dieser ganze Ausstieg funktionieren soll. „Einer Nation wie Deutschland können wir doch zutrauen, dass wir zehn Gigawatt Reaktorleistung in zehn Jahren zubauen! Ja, wo sind wir denn!!“

Der Ausbruch gilt Leuten wie Michael Fuchs. Der Wirtschaftsexperte der Union hat schon im Kanzleramt darauf gepocht, dass es ein Projektmanagement für den Umbau Deutschlands zur Ökostromrepublik geben müsse – was ihm aber nur die Entgegnung von Merkel eingetragen hat, das überlasse sie jetzt mal einfach der Wirtschaft. Fuchs hat später im CDU-Vorstand ähnlich argumentiert. Er gehört zum kleinen Häuflein derer, die das alles nicht nur für Unfug halten, sondern das auch sagen. „Dass wir hier alle Gutmenschen sind, kann ich nicht verhindern“, zürnt einer von denen. Aber selbst Unionsfraktionschef Volker Kauder hat im Vorstand vor Mäkelei im Detail gewarnt: „Wir müssen die Sache jetzt zum Erfolg machen!“ Und selbst der Hesse Volker Bouffier hat nur gemahnt, dass man jetzt bitte herausstellen müsse, dass es beim schwarz-gelben Ausstieg um die „Versöhnung von Ökologie und Ökonomie“ gehe, was ihn nämlich vom seinerzeitigen rot-grünen unterscheide.

Das Dumme an dieser Idee ist nur, dass der Unterschied so groß nicht ist. „Der weite Weg“ heißt die letzte Kapitelüberschrift im Koalitionsbeschluss. In Wahrheit war es nur Angela Merkels Koalition, die auf einem großen Umweg über den „Herbst der Entscheidungen“ mit seiner Laufzeitverlängerung wieder beim rot-grünen Ausgangspunkt gelandet ist: Bei Atomkraftwerken, die im Schnitt nach 32 Jahren abgeschaltet werden, und bei einer Energiewende, die – Förderung hin, Regierungsberichte her – am Ende die Wirtschaft selbst hinkriegen muss.

Die Erfinder dieses Kurses triumphieren denn auch lautstark. „Sie sind dazu gezwungen, unsere Politik zu akzeptieren“, röhrt Sigmar Gabriel. „Es ist unser Tag!“ Der SPD-Chef sieht dabei allerdings nicht ganz so fröhlich aus, wie man denken sollte. Merkel hat SPD- und Grünen-Spitze am Sonntagabend im Kanzleramt informiert. Freitag spricht sie mit den Ländern. Die Kanzlerin will Frieden mit der Opposition. Die SPD klingt nicht abgeneigt. Die Grünen schon: „Sie korrigieren einen Irrtum und begehen den nächsten“, sagt Fraktionschef Jürgen Trittin. Die Original-Antiatompartei mag sich nicht vom Plagiat umarmen lassen.

Am Nachmittag tritt die Kanzlerin mit dem halben Kabinett im Kanzleramt vor die Kameras. Damals im Herbst hat sie das Energiekonzept für die Laufzeitverlängerung trotzig eine „Revolution“ genannt. Diesmal hält sie sich zurück mit großen Worten. „Wir wollen, dass der Strom der Zukunft sicher sein soll“, sagt Angela Merkel. Rösler immerhin sieht „fast“ einen historischen Tag. Seehofer hat vorher sogar eine „epochale“ Entscheidung erkennen wollen. Bleibt also noch Röttgen. Der Konsens, sagt der Umweltminister, sei „eine beachtliche Leistung“. Röttgen kann eigentlich aus dem Stegreif in den hohen politphilosophischen Ton verfallen. Heute braucht er keine Superlative. Auch das Fahrrad hat er zu Hause gelassen. Man muss es ja nicht gleich übertreiben.

Mitarbeit Antje Sirleschtov

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