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US-Präsident Biden (links) und Kanzler Scholz am Donnerstag beim Nato-Gipfel in Brüssel.

© Michael Kappeler/AFP

Atomare Bedrohung, Energie, Flüchtlinge: Drei Gipfel und drei Schicksalsfragen für den Westen

Wladimir Putin setzt den Westen einer Zerreißprobe aus, die dieser bislang gut bestanden hat. Bei drei Gipfeln in Brüssel stellen sich elementare Fragen.

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Noch nie in der Geschichte ist es vorgekommen, dass Gipfeltreffen von Nato, G7 und EU an einem Tag und an einem Ort stattfanden – noch dazu in Anwesenheit des Präsidenten der USA. Doch die Staats- und Regierungschefs der EU, des transatlantischen Verteidigungsbündnisses sowie der wirtschaftsstärksten Demokratien der Welt hielten es angesichts der russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für nötig, im Hauptquartier der Nato in Brüssel ein historisch einmaliges Zeichen der Geschlossenheit zu setzen, ihre Verteidigungsbereitschaft zu demonstrieren und der Ukraine weitere Unterstützung zuzusagen. Drei wichtige Fragen sind es, die der Westen in dieser Krisenzeit klären muss.

Greift der Westen in den Krieg in der Ukraine ein, wenn Russland dort geächtete ABC-Waffen einsetzt?

Es ist wohl kein gutes Zeichen, dass US-Präsident Joe Biden Russland vor ernsten Konsequenzen für den Fall gewarnt hat, dass Wladimir Putin in der Ukraine chemische Kampfstoffe einsetzen wird. Viele andere Warnungen der USA in diesem Konflikt, die übertrieben schienen, haben sich bewahrheitet. Auch die Verbündeten hat Biden darauf vorbereitet, dass es dann eine Antwort des Westens geben muss.

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Fraglich ist, ob dann die bisherige Festlegung noch gilt, wonach keine Soldaten der USA oder anderer Nato-Staaten nicht militärisch in der Ukraine eingreifen. Denn die Nachwirkungen eines Einsatzes von ABC-Waffen, also nuklearer, biologischer oder chemischer Kampfstoffe, können auch Menschen in Nato-Ländern treffen, auch wenn Russland damit in erster Linie Ukrainer töten und schockieren will. Wind könnte die todbringende Fracht über die Grenze Polens oder Rumäniens treiben.

Das Weiße Haus hat laut einem Bericht der „New York Times“ eine Arbeitsgruppe mit der internen Bezeichnung „Tiger Team“ eingesetzt, die mögliche Antworten der USA und ihrer Verbündeten ausarbeitet. Erörtert werden sollen demnach auch Antworten auf einen Angriff Russlands auf Nachbarn wie Georgien und Moldawien oder direkt auf Nato-Territorium. In den USA gibt es Abgeordnete, die Konsequenzen der Nato auch für den Fall fordern, dass ein russischer ABC-Einsatz jenseits der Grenzen des Bündnisses erfolgt.

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Falls Moskau in der Ukraine taktische Atomwaffen einsetze, sei „alles möglich“, sagte ein hoher Regierungsvertreter der Zeitung im Hinblick auf das bislang geltende Stoppsignal für den Einsatz eigener Soldaten gegen Russland. Die russische Militärdoktrin sieht nach Angaben von Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel vor, bei regionalen Kriegen im Falle einer absehbaren Niederlage auf Kernwaffendrohungen und deren Einsatz zurückzugreifen, um eine Kriegsbeendigung zu russischen Bedingungen zu bewirken.

Demnach kann das russische Militär die nukleare Eskalation als Mittel einsetzen, um nach der Besetzung von ausländischem Territorium zu erreichen, „dass niemand wagt, die eroberten Gebiete oder Staaten wieder zu befreien“. Welche Antworten die Nato dann geben wird, ist offen. Es sei klüger, darüber zum jetzigen Zeitpunkt nicht öffentlich zu spekulieren, heißt es in der Berliner Koalition.

Einigt sich der Westen auf ein Totalembargo russischer Energie?

Mit seiner Forderung, russische Gaslieferungen künftig nur noch in Rubel abzurechnen, hat Putin viele Regierungen überrascht. Anschließend kamen gerade aus den EU-Ländern, in denen die Abhängigkeit von russischem Gas derzeit besonders groß ist, mehr oder weniger eindeutige Absagen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sagte in Brüssel, dass sämtliche Lieferverträge eine Bezahlung in Europa oder Dollar vorsähen.

Auch Italiens Regierungschef Mario Draghi betonte am Rande des EU-Gipfels, dass eine Abrechnung in Rubel grundsätzlich als Vertragsbruch anzusehen wäre. In Brüssel ist man sich dabei aber auch bewusst: Putin könnte in einem nächsten Schritt kein Gas mehr liefern, falls der Westen nicht auf seine Rubel-Forderung eingeht.

Dennoch ist in der EU keine Rede von einem möglichen Gipfelbeschluss, dem zufolge die Gemeinschaft ihrerseits zur schärfsten aller Sanktionen greift und einen Importstopp für russische Energielieferungen verhängt. Nach Angaben von EU-Diplomaten dürften Länder wie Polen oder die baltischen Staaten zwar Putins Schachzug nutzen, um ihrer Forderung eines Einfuhrverbots für Gas, Öl und Kohle aus Russland noch mehr Nachdruck zu verleihen.

Möglicherweise könnten demnach auch einige EU-Mitgliedstaaten, die bislang schwankten, ins Lager der Befürworter noch härterer Sanktionen überwechseln. Allerdings hat auch Putins jüngste Rubel-Forderung den Angaben zufolge nichts an der Haltung Deutschlands und weiterer Mitgliedstaaten geändert, die einen Importstopp ablehnen. Zu den Ländern, welche die Position der Bundesregierung teilen, gehört unter anderem Tschechien.

Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala sprach sich am Donnerstag gegen einen Stopp von Energielieferungen aus. „Wir haben nicht genug alternative Lieferquellen – das betrifft nicht nur Erdöl, sondern auch Erdgas“, sagte Fiala zur Begründung. Für eine Entscheidung über ein Energieboykott ist ein einstimmiger Beschluss aller 27 EU-Mitgliedstaaten notwendig.

Die Bundesregierung will beim EU-Gipfel in erster Linie darauf drängen, Schlupflöcher bei den bereits verhängten Sanktionen zu schließen. Diese Forderung hatte bereits Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einem Treffen mit ihren EU-Amtskollegen zu Beginn der Woche erhoben. Das dürfte insbesondere für diejenigen auf den Sanktionslisten stehenden russischen Oligarchen gelten, die sich den Strafmaßnahmen bislang entziehen konnten.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) kommt indes bei den Beratungen in Brüssel zugute, dass auch die USA nicht auf ein Embargo für Energielieferungen aus Russland drängen. Statt dessen wollten die EU und die USA gemeinsam weitere Sanktionsschritte wie das Einfrieren zusätzlicher Vermögenswerte und Reiseverbote gegen Einzelpersonen ins Auge fassen.

Bereits vor Gipfelbeginn kündigte ein hochrangiger US-Regierungsvertreter neue Sanktionen gegen Hunderte Abgeordnete des russischen Parlaments und weitere Mitglieder der russischen Elite an. Russische Rüstungsunternehmen sowie das russische Parlament als Ganzes sollen den Angaben zufolge ebenfalls auf die Sanktionsliste gesetzt werden.

Ukraine-Flüchtlinge bei der Ankunft am Hauptbahnhof in Warschau. Auch die USA beteiligen sich an der Aufnahme.
Ukraine-Flüchtlinge bei der Ankunft am Hauptbahnhof in Warschau. Auch die USA beteiligen sich an der Aufnahme.

© Christoph Reichwein/dpa

Wie geschlossen ist der Westen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise?

Hier hat es einen Durchbruch gegeben, dem offenbar ein längeres Ringen vorausging. Noch am Mittwoch war nicht klar, in welchem Ausmaß sich die USA an der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine beteiligen würden. Bis dahin war ihre Weiterleitung oder Unterbringung allein eine europäische Angelegenheit gewesen.

Doch am Donnerstag war dann ein transatlantischer Schulterschluss auch bei diesem Thema zu besichtigen. Denn das Weiße Haus kündigte an, dass das klassische Einwanderungsland USA bis zu 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen wolle. Auch Kanada und Großbritannien haben inzwischen entschieden, sich zu beteiligen.

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