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Obdachlose und Bettler wurden von den Nationalsozialisten als "Asoziale" in Konzentrationslager gesteckt.

© epd

"Asoziale" und "Berufsverbrecher" als NS-Opfer: Lücke der Erinnerung

Die Nazis steckten sie als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslager - nun wollen die Grünen sie als NS-Opfer anerkennen lassen.

Kein Mahnmal erinnert an sie, in Gedenktagsreden kommen sie nicht vor, großen Teilen der deutschen Bevölkerung sind sie unbekannt. Die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslagern Inhaftierten gelten heute als zwei der letzten vergessenen NS-Opfergruppen. Die an ihrer Häftlingskleidung mit einem schwarzen Winkel für „Asozial“ beziehungsweise einem grünen Winkel für „Berufsverbrecher“ Gekennzeichneten wurden gedemütigt, misshandelt. Zehntausende starben.

Die Erinnerungslücke an die beiden Opfergruppen zumindest auf politischer Ebene zu schließen, ist das Ziel eines interfraktionellen Antrags der Grünen im Bundestag. Der Entwurf des Antrags, der den anderen Fraktionen außer der AfD seit Ende April vorliegt, fordert die Bundesregierung auf, sich für die Aufnahme der Opfergruppen der „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ in die offizielle Erinnerungskultur einzusetzen und ihre Anerkennung zu gewährleisten. Zudem sollen laut Antragsentwurf Forschungsarbeit und Bildungsprojekte zum Thema gefördert werden.

Erhard Grundl, kulturpolitischer Sprecher seiner Fraktion und Verfasser des Entwurfs, sagt, man habe bewusst die Form des interfraktionellen Antrags gewählt, um Parteipolitik bei diesem Thema zu vermeiden. Zudem sei der Antrag knapp gehalten, um einen Streit über Einzelheiten zu vermeiden. Vorrangig gehe es zunächst darum, „ein Zeichen zu setzen, den wenigen noch lebenden Opfern das Signal zu geben: Eure Stigmatisierung war Unrecht.“

Aus den anderen Fraktionen hat Grundl Zustimmung für den Antragsentwurf signalisiert bekommen. Außer aus der Union, die Diskussionsbedarf angemeldet hat und über das Thema im Kulturausschuss im Rahmen einer Anhörung sprechen will. „Ich bin dennoch zuversichtlich“, sagt Grundl, „dass es gelingen kann, die anderen Fraktionen einschließlich der Union mit ins Boot zu holen.“

Auf eine breite Zustimmung setzt auch Frank Nonnenmacher. Der emeritierte Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und der politischen Bildung hat im Februar eine Petition ins Internet gestellt, in der er die „Anerkennung von ‚Asozialen‘ und ,Berufsverbrechern‘ als Opfer des NS-Regimes“ durch den Bundestag fordert. Über 21000 Menschen haben ihren Namen unter den Appell gesetzt.

Als "Asozial" galten in der Nazizeit Obdachlose, Wanderarbeiter, Bettler und Prostituierte

Nonnenmachers Onkel Ernst, Jahrgang 1908, gehörte zu jenen, die von den Nazis als „asozial“ gebrandmarkt wurden. Sich von Job zu Job hangelnd und Hunger leidend stahl Ernst Nonnenmacher in den 30er Jahren Lebensmittel, schlug auch mal zu, wenn er sich beleidigt fühlte. Als „Asozialer“ kam er ins Konzentrationslager Flossenbürg, später ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Er überlebte schwere Zwangsarbeit im Steinbruch, Misshandlungen und Erniedrigungen. Rehabilitierung und finanzielle Entschädigung wurden ihm nach 1945 versagt.

Als „asozial“ galten in der Nazizeit etwa Obdachlose, Wanderarbeiter, Bettler, auch Prostituierte zählten dazu. Oft waren Willkür oder Zufall entscheidend, wer dieser Gruppe zugerechnet wurde. „Berufsverbrecher“ waren in den Augen der Nazis Menschen, die durch vergangene Haftstrafen „einen inneren Drang zu kriminellen Taten“ gezeigt hatten. Ihre Straftaten wurden ihnen als charakterliche Eigenschaft zugeschrieben. Die Kriminalpolizei griff sie nach verbüßter Haftstrafe auf und brachte sie ohne weiteres Strafverfahren ins Konzentrationslager.

Mit seinem Entschädigungsgesetz von 1953 verweigerte der deutsche Staat „Berufsverbrechern“ und „Asozialen“ jegliche finanzielle Entschädigung für erfahrenes Unrecht während der Naziherrschaft. Entschädigungszahlungen sah das Gesetz ausschließlich für rassisch, politisch und religiös Verfolgte vor. Während Zeugen Jehovas, Homosexuelle und Sinti und Roma sich in den 1980er Jahren Aufmerksamkeit für ihre Verfolgungsgeschichten in der deutschen Zivilgesellschaft und in der Geschichtsforschung erkämpfen konnten, gelang das den von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten nicht. Sie schafften es nicht, eine Organisation zu gründen, hatten keine Fürsprecher. Viele hatten die erlittene Stigmatisierung in ihr Selbstbild aufgenommen, sodass die Scham zu groß war, über das erlittene Unrecht zu sprechen.

Elisabeth Motschmann, kulturpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, bestätigt den Diskussionsbedarf der Union. Es müsse geklärt werden, so Motschmann, wer in der NS-Zeit als „asozial“ und wer als „Berufsverbrecher“ galt. Hätten die damals als „Berufsverbrecher“ Bezeichneten damals „Verbrechen im heutigen Sinne“ begangen, sei eine Rehabilitierung „natürlich schwieriger, als wenn es sich um Verbrechen gegen die damalige Ideologie oder um Widerstand handelt“. Unstrittig sei aber, dass kein Verbrechen die Inhaftierung in einem KZ rechtfertige. Als weiteren Vorbehalt gegen den Grünen-Antragsentwurf nennt Motschmann den Punkt Entschädigung. „Ich selber wusste bis vor einiger Zeit gar nicht, dass es die Gruppe der ,Asozialen‘ und ,Berufsverbrecher‘ gibt“, sagt Motschmann, „so kann morgen jemand einer anderen Opfergruppe kommen, die auch überhaupt noch nicht bekannt ist.“

Jutta Herms

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