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Arzneitests an Dementen sind nun auch erlaubt, wenn sie den Erkrankten gar nicht nützen.

© dpa-tmn

Arzneitests an Demenzkranken: Ein ethischer Tabubruch ohne Not

Im Schatten der US-Wahl hat der Bundestag die Ausweitung von Medikamententests an Demenzkranken gebilligt. Das ist beunruhigend und zerstört Vertrauen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Rainer Woratschka

Nun hat es Hermann Gröhe gegen alle Widerstände also doch geschafft. Erstens: die Möglichkeiten für Arzneitests an Demenzkranken auszuweiten. Und zweitens: Die ethisch hochbrisante Änderung unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle zu halten. Der Tag, an dem das heikle Thema im Bundestag aufgerufen wurde, war just der Tag nach der US-Wahl. Als auch hierzulande keinen politisch groß was anderes interessierte als der unglaubliche Triumph des Donald Trump.

Still und leise klappte nicht

Nach dem, was vorher war, mag man an Zufall kaum glauben. Erst hatte der Gesundheitsminister die Arzneitest-Erlaubnis still und leise in einen bereits abgestimmten Kabinettsentwurf gehievt. Zur Erstbefassung des Parlaments fand sich ein spätabendlicher Abhak-Termin. Und den Versuch, die Sache ebenso flott zu später Stunde durchwinken zu lassen, vereitelte nur der Protest endlich aufmerksam gewordener Abgeordneter.

Sie erzwangen, was bei dem Thema von vornherein selbstverständlich hätte sein sollen: eine ausgiebige Debatte zur Kernzeit, ohne Fraktionszwang und mit namentlicher Abstimmung.

Schutz für die Schutzbedürftigsten wird aufgeweicht

Am Freitag hat der Bundestag einen Strich drunter gemacht. Der Schutz für die Schutzbedürftigsten im Land wird aufgeweicht. An Dementen und anderen nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen darf nun auch Arznei erprobt werden, die ihnen selber gar nicht nützt.

Bisher war das verboten. Aus gutem Grund: Wenn es bei Arzneistudien nicht primär um Heilung oder Krankheitslinderung für den jeweiligen Patienten geht, besteht die Gefahr einer Verzweckung. Solche Tests sind schon problematisch bei Gesunden, die mit Aufwandsentschädigungen gelockt werden. Bei Demenzkranken, Komapatienten, geistig Behinderten ist das Missbrauchsrisiko noch viel größer.

Vor drei Jahren waren alle noch dagegen

Es ist erst drei Jahre her, dass sich der Bundestag geschlossen gegen jede Aufweichung der Schutzstandards für diese Personengruppe gestemmt hat. Warum eine Mehrheit das jetzt plötzlich anders sieht, ist rational nicht erklärbar. Zumal die Pharmaindustrie klargestellt hat, dass man derartige Forschung an schwer Dementen zur Entwicklung neuer Arznei gar nicht benötigt.

Genauso eigenartig ist es, dass ein werteverbundener und kirchennaher Politiker wie Gröhe dieses Anliegen einiger weniger Forschungsverbünde mit derartiger Verbissenheit zu seinem eigenen machte. Und dabei jedes Gespür für die Dimension dieser Grenzüberschreitung vermissen ließ. Sterbehilfe? Nein, keinesfalls. Arzneitests an Dementen? Ja, unbedingt. Wirklich zusammen passt das nicht.

Entscheidung weckt weitere Begehrlichkeiten

Wobei die Kritiker auf dem Teppich bleiben sollten. Die Entscheidung ist beunruhigend. Eine ethische Katastrophe ist sie nicht. Schließlich setzen die Arzneitests eine Willenserklärung voraus, die vorab in geistig klarem Zustand verfasst worden sein muss. Weil die aufgrund des zeitlichen Vorlaufs nicht mehr sein kann als eine vertrauensselige Blankovollmacht, werden sich nicht viele Probanden finden.

Das Schlimme ist: Die Änderung zerstört ganz ohne Not Vertrauen in einem außerordentlich sensiblen Bereich. Und sie weckt weitere Begehrlichkeiten. Man darf gespannt sein, was der Politik als nächstes angetragen wird.

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