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Geben und Nehmen. Eine ehrenamtliche Helferin der Mainzer Tafel legt Gemüse in eine Tasche.

© Andreas Arnols/picture alliance

Armut und Bedürftigkeit in Deutschland: Am Monatsende wird es auch für Berliner Tafeln schwierig

Ab wann gilt ein Mensch in Deutschland als arm und wie geht das reiche Deutschland mit seinen Bedürftigen um? Eine Übersicht.

Nachdem die Essener Tafel ab Mitte Januar vorerst keine Migranten mehr in ihrer Kartei aufnehmen will, wird bundesweit darüber diskutiert, ob die Arbeit der gemeinnützigen Einrichtungen an ihre Grenzen gekommen ist, ob der Sozialstaat versagt hat – oder sich an dem Fall in Essen die Grenzen der Integration abzeichnen.

Gibt es bei den Tafeln Kapazitätsprobleme? Geht es um das letzte Brötchen?

Nein, sagt Sabine Werth, Vorsitzende der Berliner Tafeln. Nein – was Berlin und das Angebot hier angeht. In Berlin gebe es genug Lebensmittel, die von den Ausgabestellen „Laib und Seele“ verteilt werden könnten. Das sei bundesweit aber sehr unterschiedlich und zum Beispiel davon abhängig, ob Supermärkte oder Discounter in der Nähe seien. Kleinere Lebensmittelhändler hätten natürlich auch weniger abzugeben. Allerdings könne es zu Engpässen bei der Verteilung kommen, wenn die Nachfrage steigt: „Zum Beispiel zum Ende des Monats, wenn das Geld knapper wird“. Für diese Situation haben die Berliner Tafeln ein Lossystem entwickelt. „Es gibt Nummern für bestimmte Zeiträume, zum Beispiel für Mittwoch, 10 bis 14 Uhr“, erklärt Werth. Diese Zuordnung verhindere, dass der Andrang zu groß werde – eines der Probleme bei der Essener Tafel, das dazu geführt hat, die Neuaufnahme von Flüchtlingen in ihre Kartei seit 10. Januar vorerst zu stoppen. Als es vor zwei Jahren auch bei der Berliner Tafel wegen der gestiegenen Zahl Geflüchteter zu großem Andrang kam, wurde insgesamt ein Aufnahmestopp für alle ausgesprochen. „Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen“, lautet Grundsatz 4 der Tafel. Daran hält sich Sabine Werth mit ihrem Team.

Wieviel Armut gibt es in Deutschland?

Die Armutsquote, die seit den 1990er Jahren stieg und seit 2005 zunächst stagnierte, klettert neuerdings wieder. Vor einem Jahr lag sie bei 14,7 Prozent – einen Punkt höher als zwölf Jahre zuvor. Etwa sieben der 82 Millionen Menschen in Deutschland beziehen derzeit staatliche Transferleistungen, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht allein bestreiten können. Hinzu kommen die, die das schaffen, aber nach der gängigen EU-Definition arm sind, weil sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Georg Cremer, der frühere Caritas-Generalsekretär, der 2016 eine Kontroverse über den Blick auf Armut in Deutschland lostrat, weist darauf hin, dass nach dieser Definition auch Studierende und Auszubildende arm sind – die allerdings die größten Aussichten haben, rasch gut zu verdienen. Auch Cremer meint aber, dass viele Bedürftige unterversorgt seien, zum Beispiel die Kindergrundsicherung nicht ausreiche.

Die Nationale Armutskonferenz plädiert deswegen für eine grundsätzliche Neuberechnung etwa des Hartz-IV-Satzes. Das „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“, in dem die Armutskonferenz und mehrere große Wohlfahrtsverbände und Erwerbsloseninitiativen zusammenarbeiten, mahnte kürzlich die Verhandlerinnen zur möglichen nächsten großen Koalition, das Problem in dieser Legislaturperiode anzugehen: „Einer alleinstehenden Person stehen beispielsweise lediglich 4,69 Euro pro Tag für Essen und Trinken zur Verfügung. Davon ist eine auskömmliche und gesunde Ernährung nicht finanzierbar“, heißt es im Brief, den das Bündnis im Januar an SPD und Union schickte.

Wie sieht es in Berlin und Brandenburg aus?

Arm zu werden, ist in Berlin vor allem für Alleinerziehende eine realistische Angst. Knapp ein Drittel der Berliner Alleinerziehende und jede dritte kinderreiche Familie (30,3 Prozent) haben im Monat weniger als 923Euro Einkommen. Der Regionale Sozialbericht 2017, der diese Zahlen auflistet, ist am Mittwoch vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg vorgestellt worden. Demnach sind neben den Alleinerziehenden in der Hauptstadt vor allem Kinder armutsgefährdet (22,7 Prozent). Von Menschen, die älter als 65Jahre sind, ist jeder Zehnte betroffen (10,2 Prozent). Insgesamt sind in Berlin 16,6 Prozent der Bevölkerung einem Armutsrisiko ausgesetzt.

In Brandenburg ist das Risiko etwas geringer: 13,4 Prozent der Bevölkerung sind armutsgefährdet, 17,9 Prozent der Kinder betroffen und 8,9 Prozent der Älteren. Alarmierend ist auch dort die hohe Zahl der von Armut bedrohten Alleinerziehenden: sie liegt bei 40,9 Prozent.

Ein großes Problem für Menschen mit geringem Einkommen sind die steigenden Mieten in der Stadt, sagt Ricarda Nauenburg vom Amt für Statistik. Fast die Hälfte der armutsgefährdeten Berliner, nämlich 46,2 Prozent, müssten mehr als 40Prozent ihres Haushaltseinkommens für ihre Miete aufwenden. Bei Berlinern mit guten Einkommen seien dies nur neun Prozent.

Warum nutzen viele Flüchtlinge die Tafeln?

Daran gemessen, was beide Gruppen von Gesetzes wegen beanspruchen dürfen, stimmt der oft geäußerte Vorwurf nicht, dass es für Flüchtlinge gebe, was einheimischen Bedürftigen fehle. Trotz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das die Leistungen 2012 „evident unzureichend“ nannte, hält auch das drei Jahre später geänderte Asylbewerberleistungsgesetz Asylsuchende immer noch besonders kurz. So haben sie keinen Anspruch auf Zuschläge zum regulären Satz – wenn sie zum Beispiel schwanger oder behindert sind oder spezielle Nahrung brauchen; sie werden gesundheitlich nur bei akuter Krankheit versorgt. Wer also mehr benötigt, muss es sich unter Umständen vom Mund absparen. Außerdem führte das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz im Oktober 2015 das seit Jahrzehnten umstrittene sogenannte Sachleistungsprinzip wieder ein. In den Erstaufnahme- Einrichtungen und auch in Sammelunterkünften für Geflüchtete werden statt Bargeld vorrangig wieder Kleidung und Essen ausgegeben. Wer selber kochen will, braucht aber Geld zum Einkaufen – oder beschafft sich Zutaten bei den Tafeln.

Gibt es ein kulturelles Problem bei der Verteilung von Hilfen?

„Die Ellbogenmentalität ist uns allen inne“, stellt Sabine Werth von den Berliner Tafeln klar: „Die deutsche Oma könnte genauso gut drängeln.“ Wenn Menschen in langen Schlangen und womöglich bei Kälte darauf warten müssten, Lebensmittel ausgehändigt zu bekommen, steige völlig unabhängig von der Herkunft der Aggressionspegel. Damit kritisiert sie indirekt auch die Organisatoren der Essener Tafel. Dort gab es wegen des stürmischen Andrangs das Problem, dass sich ältere Menschen und Mütter mit Kindern an den Rand gedrängt und übervorteilt fühlten. „50 bis 100 Leute in einer Schlange vor der Tür – das würde ich mir auch als Ehrenamtlicher nicht antun wollen“, plädiert Werth für ein System, das bei der Lebensmittel-Ausgabe für Ordnung und Ruhe sorgt und den Andrang besser verteilt.

Sind die Tafeln eine zeitgemäße Hilfe?

Die Kritik, sie seien der Reparaturbetrieb für einen schrumpfenden Sozialstaat, begleitet die Tafeln, seit die erste vor 25 Jahren in Berlin gegründet wurde. Kritisch wird gelegentlich auch gesehen, dass das Tafel-Konzept von Wohltätigkeit auf die westliche Wegwerfkultur geradezu angewiesen ist: Jahr für Jahr werden in Deutschland 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen – das ist ungefähr ein Viertel der Gesamtproduktion. Die Tafeln sind auch eine Reaktion auf dieses Ausmaß von Verschwendung.

Bedürftigen bieten sie vor allem eine Möglichkeit aufzustocken, was sie zum Leben haben: Geld, das nicht im Supermarkt ausgegeben werden muss, wird zur Finanzierung von anderen Bedarfen und Bedürfnissen frei. Die Tafeln könnten so „an vielen Stellen Not lindern“, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie (siehe Interview). Sie könnten aber aber „keine Antwort auf das strukturelle Armutsproblem in Deutschland“ sein.

Dafür sprechen auch die Zahlen: Bis zu 1,5 Millionen Menschen sind Kunden der Tafeln, allein die Zahl derer, die von staatlicher Grundsicherung leben, ist fast fünfmal so hoch.

Wie sind die Tafeln organisiert und wer sind ihre Kunden?

In Deutschland gibt es 934 Tafeln, die erste wurde vor 25 Jahren in Berlin gegründet. Über 2100 Tafel-Läden und Ausgabestellen werden Lebensmittel verteilt. Nach eigenen Angaben arbeiten 60 Prozent der Tafeln in Trägerschaft verschiedener gemeinnütziger Organisationen wie der Caritas oder der Diakonie; die anderen 40 Prozent sind eingetragene Vereine.

Auf ihrer Internetseite schlüsseln die Tafeln ihre 1,5 Millionen bedürftigen Nutzer auf: 23 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche, 53 Prozent Erwachsene im erwerbsfähigen Alter – vor allem ALG-II- und Sozialgeld-Empfänger, Spätaussiedler und Migranten. 23 Prozent sind Rentner und 19 Prozent Alleinerziehende. Seit 1995 gibt es einen Tafel-Dachverband, der seinen Sitz in Berlin hat und sich als Service-Zentrale der rund 60000 ehrenamtlichen Helfer begreift.

Welche Folgen hat die aktuelle Diskussion um die Maßnahmen der Essener Tafel?

Intern: einen Runden Tisch. Nach einem Krisengespräch am Dienstag haben die Tafel in Essen, der Landes- und der Dachverband sich dazu verabredet. Ziel sei es, alle Zielgruppen besser zu erreichen, im Fokus stünden dafür „ganz besonders Alleinerziehende, Familien mit minderjährigen Kindern und Seniorinnen und Senioren“, hieß es Dienstagabend – über die Herkunft der Menschen in diesen Zielgruppen wurde ausdrücklich nichts gesagt.

Werth hat dieser Tage „ein Bashing erlebt, wie nie zuvor“: Weil sie sich für Hilfsleistungen an alle Bedürftigen unabhängig von deren Herkunft ausgesprochen habe, erhalte sie nun viele „deutschnationale Mails“. Sie habe Schande über sich und ihre Familie gebracht, heißt es darin unter anderem – und dass deutsche Lebensmittel nur an deutsche Kunden verteilt werden sollten.

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