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Demonstranten in Jerewan bejubeln den Rücktritt von Armeniens Ministerpräsident Sersch Sargsjan.

© Grigor Yepremyan, dpa

Armenien: Samtene Revolution im Kaukasus

Mit friedlichen Massenprotesten erzwingen die Armenier den Rücktritt des Premiers. Der Chef der Übergangsregierung schlägt jetzt Neuwahlen vor.

Nach fast zwei Wochen Massenprotesten könnte es in der Kaukasus-Republik Armenien bald Neuwahlen geben. Der geschäftsführende Ministerpräsident Karen Karapetjan schlug am Mittwoch vor, die Wähler zur Abstimmung zu rufen. Karapetjan steht dem bisherigen Regierungschef Sersch Sargsjan nahe, der sich am Montag dem Druck der Demonstranten gebeugt hatte und zurückgetreten war.

Der rasche und mühelose Erfolg ihrer Proteste überraschte selbst die Demonstranten. Sie waren spontan auf die Straße gegangen, ohne eine oppositionelle politische Organisation an der Spitze oder im Hintergrund. Der Journalist Nikol Paschinjan – der Mann, der sich im Verlauf des Aufmarsches auf dem großen Platz im Zentrum Jerewans als Anführer der Massen herausstellte – ist voller Mut und Ideen, aber ohne große Erfahrung mit politischen Mechanismen. Bei Neuwahlen hat die traditionelle Elite Armeniens deshalb gute Chancen zurückzuschlagen. Paschinjan reagierte denn auch skeptisch auf den Neuwahl-Aufruf, er vermutet ein Spiel auf Zeit. Die Straßenproteste gehen zunächst mit unverminderter Stärke weiter.

Gebrochenes Versprechen

Was sich bei der samtenen Revolution in Jerewan als die Achillesferse der Macht erwies, muss man ihr zugleich hoch anrechnen: Sie war nicht bereit, Gewalt gegen die Menge anzuwenden. In seiner Rücktrittsrede sagte Sargsjan am Montag, er erfülle die Forderungen der Straße. „Ich hatte Unrecht. Es gibt mehrere Lösungen für die Lage, aber ich werde keine von ihnen ergreifen. Ich trete als Premier zurück.“ Zum Abschluss wünschte er seinem Land „Frieden, Harmonie und Vernunft“. In den Straßen Jerewans tanzten Jugendliche, Menschen umarmten einander.

Die Demonstrationen hatten begonnen, als Sargsjan ein Versprechen brach. Er war seit 2008 Staatspräsident und hatte angekündigt, er wolle kein armenischer Wladimir Putin werden und seine Herrschaft als Regierungschef fortsetzen. Genau dazu aber machten ihn die Abgeordneten seiner Republikanischen Partei, die das Parlament beherrscht. In einer Verfassungsänderung 2015 war dieses Amt mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet worden.

Stolze Bürger

Als sich am Montag Teile des Sicherheitsapparates den Demonstranten anschlossen, trat Sargsjan zurück. Doch es wäre falsch, in diesem Seitenwechsel die Ursache für den Machtverzicht zu sehen. In Armenien gibt es eine aktive Zivilgesellschaft und eine halbwegs freie Informationssphäre. Die Armenier sind arm, aber die meisten besitzen eine gute Ausbildung. Sie lassen sich nicht für dumm verkaufen und fühlen sich – ähnlich wie die Bewohner der Ukraine – als stolze Bürger ihres Landes. Ihrem Unmut machten sie in den vergangenen Jahren regelmäßig Luft. Proteste entzündeten sich meist an sozialen Themen. Demonstrationen richteten sich beispielsweise im Sommer 2015 gegen die hohen Strompreise. Hier konnte der Staat noch einen Kompromiss mit den Unzufriedenen finden. Im Jahr darauf folgten Proteste wegen des schlechten Krisenmanagements einer glimpflich ausgegangenen Geiselnahme.

Keine geopolitischen Folgen

Für den Triumph der Demonstranten kann man nach Ansicht von Experten den Einfluss des Westens nicht verantwortlich machen, lehnt sich das Land doch sicherheitspolitisch und ökonomisch stark Moskau an. Die knapp drei Millionen Armenier sehen sich bedroht von den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei und haben sich deshalb eng an Russland gebunden. Die armenische Regierung hat in den letzten Jahren jedoch auch bemüht, das Verhältnis der von Russland geführten Eurasischen Union und der Europäischen Union auszubalancieren. Im vergangenen Jahr wurde ein Partnerschaftsabkommen mit der EU abgeschlossen. Bei den Protesten stand eine geopolitische Wahl jedoch nicht zur Debatte. Das erklärt wohl auch die bisherige Zurückhaltung Russlands, anders als vor vier Jahren nach dem Maidan in Kiew.

In Jerewan ging es um die Ablösung einer Elite, die ihre Macht über Jahrzehnte mit Korruption und Vetternwirtschaft abgesichert hatte. Lange funktionierte auch die Argumentation erfolgreich, allzu große politische Veränderungen würden im Innern Instabilität bringen und seien angesichts der äußeren Feinde lebensbedrohlich. Doch vor allem junge, gut ausgebildete Armenier fordern mehr von ihren Politikern. Sie wollen neue Gesichter und vor allem neue Ideen.

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