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Gewalterfahrung fürs Leben: Ein Vater mit seinem Jungen im syrischen Aleppo.

© Reuters/Hosam Katan

Exklusiv

AOK-Studie: Drei von vier Kriegsflüchtlingen sind traumatisiert

Gewalterfahrung, die das Leben bestimmt: Erstmals gibt es eine repräsentative Studie zum Gesundheitszustand von Syrern, Afghanen und Irakern in Deutschland.

Die Zahl der Geflüchteten mit traumatischen Erlebnissen ist gewaltig und stellt das deutsche Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Das ist der ersten bundesweiten Studie zum gesundheitlichen Zustand von Schutzsuchenden aus den wichtigsten Herkunftsländern Syrien, Afghanistan und dem Irak zu entnehmen, die dem Tagesspiegel vorliegt. Drei Viertel dieser Flüchtlinge – hochgerechnet mehr als 600.000 – haben nach eigenen Angaben unterschiedlichste Formen von Gewalt erlebt, heißt es in dem 20-Seiten-Bericht. Sie seien oft gleich mehrfach traumatisiert.

Jeder Fünfte wurde gefoltert

Bei der Befragung, die vom Wissenschaftlichen Dienst der AOK durchgeführt und ausgewertet wurde, berichteten 74,7 Prozent von persönlichen Gewalterfahrungen vor oder während ihrer Flucht. Bei mehr als 60 Prozent der Traumatisierten waren das Kriegserlebnisse, bei mehr als 40 Prozent direkte Angriffen durch Militärs und andere Bewaffnete. Mehr als jeder Dritte hat das Verschwinden, die Verschleppung oder Ermordung von Angehörigen und nahestehenden Personen zu verkraften. Jeder Fünfte wurde gefoltert. Jeweils knapp 16 Prozent befanden sich in Lagern oder in Isolationshaft, waren Zeugen von Tötung, Misshandlung, sexueller Gewalt. Mehr als sechs Prozent wurden selber vergewaltigt.

Knapp 28 Prozent berichteten von zwei oder drei Traumata – und über 30 Prozent gaben sogar an, mehr als drei solcher psychischen Erschütterungen erfahren zu haben. Lediglich 22,5 Prozent der Geflüchteten hatten kein Trauma aufzuweisen.

Gravierender Einfluss auf die Gesundheit

Die Gewalterfahrungen hätten „gravierenden Einfluss“ auf die Gesundheit der Betroffenen, heißt es in der Studie. Im Vergleich zu Geflüchteten ohne diese Erlebnisse seien bei ihnen sowohl psychische als auch körperliche Beschwerden mehr als doppelt so häufig. Das reicht von Unruhe, Schlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit bis zu Kopfschmerz, Rückenleiden, Verdauungsstörungen, Herz- und Kreislaufbeschwerden. Anzeichen einer depressiven Erkrankung zeigten mehr als zwei Fünftel aller Befragten.

Doch wie umgehen mit diesem Befund, den Kriegs- und Gewaltnachwirkungen der Geflüchteten, dem hunderttausendfachen Leid in den Köpfen und Herzen? Überfordert der Versuch, ihnen allen nach unseren Therapeutenstandards zu helfen, nicht unser System?

Steuermittel für Therapieangebote gefordert

Es gebe zwei Möglichkeiten, sagt Helmut Schröder, der Vize-Geschäftsführer des AOK-Instituts, der die Studie mitverfasst hat. Entweder wegschauen, die in der Befragung deutlich werdende Not der Menschen ignorieren und Folgeprobleme wie die Chronifizierung von Krankheiten auf die Gesellschaft zukommen lassen. Oder Licht hineinzubekommen, den therapeutischen Bedarf zu ermitteln und dann ausreichend Therapieangebote bereitzustellen.

Für den Wissenschaftler ist klar: Die in Deutschland aufgenommenen Gewaltopfer müssen bei der Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse „angemessen unterstützt werden“. Das sei eine ebensolche humanitäre Pflicht wie eine Unterkunft, ordentliche Verpflegung oder der Schulunterricht für Flüchtlingskinder. Und als gesellschaftspolitische Aufgabe sei dies aus Steuermitteln zu finanzieren.

Auch Gesprächsgruppen können entlasten

Die Notwendigkeit des Helfens bedeute aber nicht, dass jeder und jede Traumatisierte in eine psychotherapeutische Einzelbehandlung gehöre. Hier müsse man sich am individuellen Bedarf orientieren. Entlastend seien womöglich auch Gesprächsgruppen, Betreuung durch Ehrenamtliche, Unterstützung durch selber geflohene Ärzte und Psychologen. Wichtig sei, dass solche Hilfe alle Geflüchteten erreiche, die sie benötigten, mahnen die Studienautoren - „auch und gerade im Hinblick auf eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt“.

Die Voraussetzungen für solche Integration nämlich seien trotz der gesundheitlichen Handicaps „vergleichsweise gut“, heißt es in der Studie. Die Befragten kämen im Schnitt auf knapp neun Jahre Schulbildung. Nur 6,9 Prozent hätten keine Schule von innen gesehen. Mehr als 57 Prozent seien vor der Flucht berufstätig gewesen, jeder sechste habe sich in Schul- oder Universitätsausbildung befunden.

Weniger Trinker und chronisch Kranke, mehr Raucher und Sportmuffel

Auch der Anteil an chronisch Kranken liegt mit 13,6 Prozent weit unter dem der deutschen Bevölkerung (30,5 Prozent). Beim Risikofaktor Alkohol punkten die Geflüchteten ebenfalls. Sie konsumieren davon deutlich weniger als die Bürger hierzulande. 71,5 Prozent sind der Umfrage zufolge abstinent. Nur 3,3 Prozent trinken regelmäßig und an mehr als vier Tagen pro Woche. Zum Vergleich: Die Deutschen kommen beim riskanten Alkoholkonsum auf 13,9 Prozent.

Allerdings rauchen die Befragten häufiger. Unter geflüchteten Frauen ist die Quote mit 19,3 Prozent zwar niedriger als in der deutschen Vergleichsgruppe (27 Prozent), bei den Männern mit 61 Prozent aber fast doppelt so hoch. Auch Gesundheitsprävention ist ein Problem: Nicht mal jeder Dritte der unter 30-Jährigen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak treibt einmal pro Woche Sport. In der deutschen Wohnbevölkerung sind das 80 Prozent.

Ohne Gesundheitskarte schlechterer Behandlungserfolg

Körperliche Betätigung könne nicht nur helfen, körperliche und psychische Beschwerden zu lindern, schreiben die Autoren. Sie fördere auch soziale Integration. Insofern gebe es hier Handlungsbedarf. Vor allem gebe es diesen aber im Gesundheitssystem. „Geflüchtete sollten ab dem ersten Tag einen umfassenden Anspruch auf medizinische Versorgung haben, wie er auch gesetzlich Krankenversicherten zusteht“, heißt es in der Studie.

Bislang ist die gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten eher dürftig. In den ersten 15 Monaten steht ihnen nur eine Minimalversorgung zu. Und in den meisten Gemeinden und Bundesländern benötigen sie vor jeder Behandlung einen „Berechtigungsschein“, den ihnen nicht etwa medizinisch versierte Experten, sondern auf Antrag die Sozialbehörde ausstellt.

Die Studie kommt zu dem nicht überraschenden Befund, dass ein derart beschränkter Zugang zu Ärzten nicht nur die Zufriedenheit mit der Behandlung, sondern auch deren Erfolg beeinflusst. Flüchtlinge mit Gesundheitskarte – wie in Hamburg und Bremen Standard – berichteten nach Arztbesuchen deutlich häufiger von einer Verbesserung ihres Gesundheitszustandes als Patienten mit Behandlungsschein (57,4 zu 42,9 Prozent).

Jeder Zweite weiß nicht, wo es medizinische Hilfe gibt

Allerdings haben der Studie zufolge nur 68,3 Prozent der Befragten in den letzten sechs Monaten überhaupt einen Mediziner aufgesucht. Beim Facharzt waren gerade mal 6,8 Prozent. Das liegt nicht nur an bürokratischen Hemmnissen, sondern auch an Sprachproblemen. 56 Prozent berichteten von Schwierigkeiten, sich in Arztpraxis oder Krankenhaus verständlich zu machen.

Jeder Zweite droht schon an der Frage zu scheitern, wo es im Krankheitsfall professionelle Hilfe gibt. Und jeder sechste Befragte gab an, im vergangenen halben Jahr zwar einen Arzt aufgesucht zu haben, dort aber nicht behandelt worden zu sein. Unter den chronisch Kranken lag der Anteil der unbehandelt Gebliebenen gar bei knapp 27 Prozent.

Die repräsentative Studie zum Gesundheitszustand von Flüchtlingen ist die erste ihrer Art, auch international gibt es bisher keine vergleichbare Erhebung. Bundesweit wurden dafür zwischen 2017 und 2018 mehr als 2000 Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Afghanistan befragt. Alle waren mindestens 18 Jahre alt, lebten in Sammelunterkünften und hielten sich noch keine zwei Jahre in Deutschland auf. Da 57,7 Prozent aller Erstasyl-Anträge seit 2015 von Flüchtlingen aus den drei genannten Ländern stammen, beziehen sich die Ergebnisse auf mehr als 825.000 Menschen.

Nur ein Bruchteil der Traumatisierten wird betreut

Für traumatisierte Flüchtlinge ist es in Deutschland bisher sehr schwierig, fachliche Hilfe zu bekommen. Als Hauptanlaufstellen gibt es bundesweit zwar 37 eigens darauf spezialisierte „psychosoziale Zentren“. Doch die Experten dort können nur einen Bruchteil derer versorgen, die bei ihnen vor der Tür stehen. Pro Jahr werden in den Zentren mehr als 17.500 Hilfesuchende betreut.

Die Zahl der Abgelehnten, die aus Kapazitätsgründen nicht mal auf eine Warteliste kommen, sei aber um 85 Prozent gestiegen, heißt es in einer Erhebung des Dachverbandes vom Sommer dieses Jahres. Sie betrage bereits mehr als 10.000 pro Jahr – und liege damit nun sogar über der Zahl der neu Aufgenommenen. In einigen Regionen müssten selbst schwer traumatisierte Geflüchtete bis zu eineinhalb Jahre auf den Beginn ihrer Therapie warten.

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