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Die mittelalterliche Schmähskulptur an der Außenmauer der Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert.

© Hendrik Schmidt/dpa

Update

Antisemitische Bildnisse im Christentum: Wo die Beleidigung durch eine „Judensau“ aufhört

Ein jüdischer Bürger fordert, ein Relief an der Wittenberger Kirche zu entfernen. Seine Klage ist verständlich, aber ihr Erfolg wäre ein Verlust. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

An diesem Montag wird der Bundesgerichtshof (BGH) einen einzigartigen Rechtsstreit verhandeln: Ein jüdischer Bürger klagt gegen ein Sandsteinrelief an der Wittenberger Stadtkirche.

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Dort, wo der Reformator Martin Luther predigte und die Heilige Messe erstmals auf Deutsch gefeiert wurde, prangt über der Chorfassade eine „Judensau“: Ein im Mittelalter oft gefertigtes Bildmotiv, das Juden mit Schweinen zeigt, die im Judentum als unrein gelten. Mal reiten sie auf den Tieren, mal riechen sie ihnen am Anus, trinken ihren Urin oder saugen an den Zitzen.

Die Wittenberger "Judensau" ist ein Relief der Schande, vielleicht aufzubewahren in einem Museum, aber nicht als öffentliches architektonisches Beiwerk an einer christlichen Kirche.

schreibt NutzerIn detlevbruse

Es handelt sich um unfassbare antisemitische Schmähungen, die sich von anderen antisemitischen Schmähungen dadurch unterscheiden, dass sie uralt sind. Die wohl älteste findet sich am Dom in Brandenburg an der Havel, sie stammt aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts. Die in Wittenberg ist nur wenig jünger und gilt wegen Luthers Antijudaismus als besonders prekär.

Niemand muss eine Beleidigung dulden, sie ist strafbar

Muss die Wittenberger „Judensau“ jetzt einem Richterspruch weichen? Trotz ihres augenfälligen Charakters sprich wenig dafür. Der Kläger macht eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts geltend, weil er sich in seinem Glauben beleidigt sieht. Niemand muss eine Beleidigung dulden, sie ist strafbar nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuchs und wird in weit weniger gravierend erscheinenden Fällen auch danach geahndet.

Doch das Wittenberger Relief hat ein neues Umfeld erhalten, auf das die beklagte evangelische Gemeinde, der die Kirche gehört, die ganze Aufmerksamkeit lenken möchte.

Eine in den Boden vor der „Judensau“ eingegossene Bronzeplatte bringt den christlichen Antisemitismus, namentlich den Luthers, in Verbindung mit dem Holocaust. Dazu gibt es eine Erklärtafel, die Bronze und Sau in Beziehung setzt.

In den Worten des Oberlandesgerichts Naumburg, das die Klage im Jahr 2020 abgewiesen hatte, ergibt sich damit ein „Ensemble von Objekten des Gedenkens und der Erinnerung“, das nicht als Beleidigung zu werten sei.

Du bist ein Schwein, aber ich meine es nicht so

Nun hält der Kläger dagegen, dass eine Beleidigung auch dann eine Beleidigung bleibe, wenn man sie kommentiere. Motto: Du bist ein Schwein, aber ich meine es nicht so, wie ich es sage. Man hört dieses Argument oft, aber es trägt nur begrenzt. Denn entscheidend ist, ob der Kontext nur tarnen soll, dass der Absender jemanden herabwürdigen will – oder dem Gesagten tatsächlich eine neue Richtung gibt.

Ich habe auch schon vor diesem Relief gestanden und fand es sehr eindrucksvoll, das herabwürdigende Bild vor Ort zu erleben anstatt losgelöst von der Umgebung und ausgestellt in einem Museum. Es hilft dem Verständnis, wie es zu den jahrhundertealten antijüdischen Vorurteilen kommen konnte und wie sie weitergegeben wurden.

schreibt NutzerIn Shprintze

Für Wittenberg darf man annehmen, dass die Distanzierung ausreichend ist. Zumindest nach aktuellem Empfinden, das mit den jüngsten Rassismusdiskussionen geschärft wurde. Die Bewertung bleibt zeitgebunden: Der „Judensau“ am Regensburger Dom wurde 2005 eine Hinweistafel beigestellt, welche die Skulptur einer „vergangenen Epoche“ zuordnet und die deshalb heute „befremdlich“ wirke.

Höflicher kann man kaum sagen, was damals verbrochen wurde. Der Text wirkt heute seinerseits befremdlich, denn Antisemitismus ist alles, nur ist er nicht vergangen. In diesem Sinne gibt es jetzt eine neue Tafel, die auch die Perfidie benennt, mit der das Bildwerk hin zum Judenviertel ausgerichtet wurde. Heute hieße so etwas Volksverhetzung.

Wahrscheinlich ist es gut, wenn es keine Bilderstürmerei mit Rechtsmitteln gibt: Die „Judensäue“ bleiben mit den Kirchen so fest verbunden, wie diese es mit dem Antisemitismus waren. Und die Gemeinden müssen dies so lange erklären, wie ihre Sakralbauten stehen. Hoffentlich ewig.

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