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Kurdinnen demonstrieren im nordsyrischen Hasaka gegen die türkischen Angriffe.

© Delil SOULEIMAN / AFP

Ankaras Angriffe auf Nordirak: Kurden fürchten türkische Annexion

"Keine Selbstverteidigungslage" - der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kritisiert türkische Bombardements auf mutmaßliche PKK-Stellungen.

Im Dreiländereck Syrien-Irak- Türkei eskaliert die militärische Gewalt: Türkische Soldaten haben am Wochenende im Nordirak erneut kurdische Orte angegriffen. Die konservative Führung der irakischen Kurden, die sich stets um ein gutes Verhältnis zur Türkei bemüht hat, sah sich gezwungen, eigene Sicherheitskräfte zu mobilisieren, um in den bombardierten Orten zu helfen. So wurden Dörfer in der Provinz Dohuk evakuiert. Ankaras Armee will mit den Angriffen die Kurdische Arbeiterpartei PKK treffen, deren Hauptquartier sich in den nordirakischen Kandil-Bergen befindet.

Die „Adlerkralle“ und „Tigerkralle“ genannten Luft- und Bodenoffensiven könnten, so die Befürchtung im Nordirak, womöglich in einer faktischen Annexion bestimmter Orte münden. Auf kurdisch-irakischem Gebiet hält die Türkei seit Jahren zahlreiche Stützpunkte. Ankaras Luftwaffe bombardierte zuletzt auch die Rojava genannte kurdische Autonomiezone in Nordsyrien, wo Ankara schon eine „Sicherheitszone“ besetzt hält.

Gutachten: PKK-Angriffe auf Türkei "deutlich abgenommen"

Anders als die türkische Regierung erklärte, gebe es bei den Angriffen auf die selbstständige Kurdenregion im Nordirak „keine Selbstverteidigungslage“, hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem aktuellen Gutachten festgestellt – ein „gegenwärtiger oder unmittelbar bevorstehender bewaffneter Angriff seitens der PKK“ drohe nicht. Die PKK kämpft seit drei Jahrzehnten um kurdische Autonomie in der Türkei, auch in vielen Staaten Europas ist sie verboten. Allerdings, heißt es in dem Gutachten, habe die „Intensität der PKK-Angriffe auf die Türkei“ ab 2015 „deutlich abgenommen“, die Organisation verzeichne deutlich mehr Tote als Ankaras Sicherheitsorgane.

Von 2013 bis 2015 hatte die türkische Regierung Recep Tayyip Erdogans mit dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan über eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes verhandelt. Millionen Kurden leben in der Türkei, im Irak, in Syrien und im Iran. Die säkular-sozialistische PKK ist in diesen Ländern auch über Schwesterparteien präsent. Türkische und iranische Truppen sprachen im Juni ihre Einsätze gegen kurdische Guerilleros an der gemeinsamen Grenze ab. Zum Ärger der US-Regierung kooperierte Staatschef Erdogan in der Grenzregion schon zuvor mit dem Mullah-Regime.

Arabische Liga kritisiert Erdogan

In Syrien haben die USA die Kurdenpartei PYD und die kurdisch-assyrisch-arabische Militärallianz SDF unterstützt, die das nordsyrische Rojava regieren. Ankara betrachtet die PYD als PKK-Ableger und eroberte weite Areale der Autonomiezone, nachdem US-Präsident 2019 die amerikanischen Streitkräfte von dort abziehen ließ. Dass Erdogan syrisch-kurdische Städte besetzte und türkische Rechte die De-facto-Annexion dort offiziell machen wollen, hat auch die Arabische Liga alarmiert. Im Nordirak unterhält Ankaras Armee geduldete Stützpunkte, die Bombardements aber verurteilte die Liga – und auch Erdogans Interventionen im libyschen Bürgerkrieg zeigten die „expansionistischen Ambitionen der Türkei“.

"Förmliche Erklärung" vom Nato-Mitglied Türkei?

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schreibt, Deutschland könne eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragen und „einen umfassenden Waffenstillstand und einen bedingungslosen Zugang für humanitäre Hilfe“ fordern. Da sowohl die Bundesrepublik als auch die Türkei der Nato angehören, könnte Deutschland in Einklang mit den Statuten des Militärbündnisses „eine förmliche Erklärung der Türkei zu den Militäroperationen gegen die PKK in Nordirak“ einfordern.

Den Wissenschaftlichen Dienst um Einschätzung gebeten hatte unter anderem die Abgeordnete Evrim Sommer (Linke). „Die Bundesregierung muss als amtierende Vorsitzende des UN-Sicherheitsrats eine Dringlichkeitssitzung beantragen – und die militärische Zusammenarbeit mit Ankara sowie sämtliche Waffenexporte in die Türkei beenden“, sagte Sommer dem Tagesspiegel: „Das Erdogan-Regime wird mehr und mehr zu einer Gefahr für den ohnehin instabilen Nahen Osten.“

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