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Der ausgebrannte Dachstuhl der geplanten Flüchtlingsunterkunft im sachsen-anhaltischen Tröglitz. Auf das Gebäude war im April vergangenen Jahres ein Brandanschlag verübt worden.

© Jan Woitas/dpa

Update

Angriffe auf Flüchtlinge: Amnesty wirft Behörden Versagen gegen Rassismus vor

Amnesty International erhebt schwere Vorwürfe gegen deutsche Behörden: Sie seien nicht in der Lage, entschieden gegen rassistische Gewalt vorzugehen.

Von Matthias Meisner

"Als die Behörden mir sagten, ich müsse nach Dresden, hatte ich richtig Angst", sagt Ciwan B., ein kurdischer Asylsuchender. "Ich hatte von Pegida und den Protesten gegen Flüchtlinge gehört. Ich bin vor dem Krieg in Syrien geflohen und möchte hier in Deutschland keine Auseinandersetzungen." Er wolle, sagt der Flüchtling weiter, in dem Bereich arbeiten, in dem er in Syrien tätig war - dort war er Manager für ein IT-Unternehmen. "Und ein gutes Leben haben, so wie vor dem Krieg."

Ciwan B. ist einer von vielen, die von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International für eine neue Studie interviewt wurden - nicht nur Asylsuchende wurden befragt, sondern auch Vertreter von Bundesinnenministerium, Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaften, Polizei, Landesregierungen, Flüchtlingsinitiativen und Nichtregierungsorganisationen. Der am Donnerstag in Berlin vorgestellte Bericht trägt den Titel "Leben in Unsicherheit - wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt". Er kommt zu dem Schluss, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden auch fünf Jahren nach ihrem Versagen beim NSU-Skandal nicht in der Lage seien, entschieden gegen rassistische Gewalt vorzugehen.

Dokumentiert wird das an zahlreichen Fallbeispielen - vom ostsächsischen Hoyerswerda bis nach Aachen. Der syrische Flüchtling Sliman R. berichtet aus dem Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf, wo Feuerwerkskörper gegen eine Unterkunft geworfen wurden: "Ich habe die Feindseligkeit der Nachbarn selbst erlebt." Viele Leute, vor allem Frauen, hätten Angst und würden es vermeiden, allein in der Gegend unterwegs zu sein. Amnesty bilanziert: Oft würden die Opfer nicht ernst genommen, ein rassistischer Hintergrund der Taten werde von den Ermittlungsbehörden ausgeblendet.

Eine endgültige Schlussfolgerung hinsichtlich der Existenz von institutionellem Rassismus innerhalb der deutschen Strafverfolgungsbehörden wagt die Menschenrechtsorganisation ausdrücklich nicht. Die Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, Selmin Caliskan, sagte allerdings, es gebe "deutliche Hinweise" darauf, vor allem bei der Polizei, aber auch der Justiz. In der 80-seitigen Studie heißt es, die Recherchen würden nahelegen, "dass es umfassendere strukturelle und einstellungsbedingte Gründe für einige der Fehler und Versäumnisse bei der effektiven Untersuchung, Strafverfolgung und Bestrafung rassistisch motivierter Straftaten gibt".

Die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selmin Caliskan, und Amnesty Researcher Marco Perolini stellen den neuen Bericht zu rassistischer Gewalt in Deutschland vor.
Die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selmin Caliskan, und Amnesty Researcher Marco Perolini stellen den neuen Bericht zu rassistischer Gewalt in Deutschland vor.

© Kay Nietfeld/dpa

Caliskan sprach von einem Unvermögen deutscher Behörden, alle Menschen angemessen und professionell zu behandeln, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihres kulturellen Hintergrunds oder ihrer ethnischen Herkunft. Das Bild, das Deutschland aktuell abgebe, könne widersprüchlicher nicht sein - auf der einen Seite eine "großartige, mitfühlende Willkommenskultur", auf der anderen Seite würden "rassistische Ressentiments mit erschreckender Hemmungslosigkeit ausgelebt", sagte sie.

Marco Perolini, Hauptautor des Berichts erklärte: "Die abstoßenden Angriffe traumatisieren Flüchtlinge und Asylsuchende, die ohnehin schon Krieg und Verfolgung durchleben mussten, bevor sie nach Europa geflohen sind."

Amnesty hatte ähnliche Berichte auch zu anderen Ländern erstellt, unter anderem Italien, Frankreich, Polen und Bulgarien. Einen Länder-Vergleich will die Organisation aber nicht anstellen, da die Daten zu "Hassverbrechen" von den Behörden in den einzelnen Ländern auf sehr unterschiedlicher Basis erhoben würden. Perolini nannte die Entwicklung in Deutschland "besorgniserregend", verwies aber auch auf die steigende Zahl von Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünften etwa in Schweden und wachsende Islamophobie nach den Anschlägen in Frankreich.

2015 mehr als tausend Angriffe gegen Asylunterkünfte

Im vergangenen Jahr hatte die Kriminalität gegen Asylunterkünfte einen traurigen Höhepunkt erreicht - zu den damals insgesamt 1031 Delikten zählten 177 Gewalttaten, davon 94 Brandstiftungen, acht Sprengstoffexplosionen sowie acht Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz. Im Vergleich zum Jahr 2014 hat sich die Zahl verfünffacht. Vorausgegangen sind den gewalttätigen Attacken nicht selten fremdenfeindliche Demonstrationen und Anti-Asyl-Hetze zum Beispiel auf Facebook - oft angeheizt von der extremen Rechten.

Pegida-Kundgebung Ende Mai in Dresden
Pegida-Kundgebung Ende Mai in Dresden

© Arno Burgi/dpa

Brennpunkt Marzahn-Hellersdorf

Zwar sei es nicht möglich, Schlüsse über das Ausmaß zu ziehen, in dem Teilnehmer flüchtlingsfeindlicher Demonstrationen auch gewalttätige rassistische Delikte begehen, erklärt Amnesty. Häufig sei aber festzustellen, dass mit der Zunahme von Demonstrationen auch eine Zunahme diskriminierender Gewalt gegen Flüchtlinge in derselben Gegend einhergehe. Auch hier verweist Amnesty beispielhaft auf Marzahn-Hellersdorf. Und erklärt, dass die Berliner Polizei weder über einen umfassenden Plan noch eine Strategie zur Verhinderung von Angriffen in diesem Stadtbezirk verfüge, "trotz der vorliegenden Zahlen zum Anstieg von rassistisch motivierter Kriminalität in diesem Bezirk".

Einschränkung des Demonstrationsrechts?

In der Konsequenz fordert Amnesty unter anderem "angemessene Einschränkungen" der Proteste gegen Flüchtlinge. So könne zur Auflage gemacht werden, dass die Demonstranten "einen bestimmten Abstand zu der Unterkunft einhalten müssen, damit die dort lebenden Personen ihre Unterkunft ohne Angst betreten und verlassen können", schlägt die Organisation vor. Ähnlich hatten das im vergangenen Jahr die Initiatoren einer Petition "Heime ohne Hass" nach den gewalttätigen Anti-Asylprotesten in den sächsischen Städten Freital und Heidenau angeregt.

"Es wäre sicherlich für die Polizei weder realistisch noch umsetzbar, rund um die Uhr für den Schutz aller Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland zu sorgen", heißt es in der Amnesty-Studie. Allerdings erwartet die Menschenrechtsorganisation einen "erweiterten Polizeischutz" für solche Asylheime, bei der die Gefahr gewalttätiger Angriffe besonders hoch ist. Das sind laut Amnesty Gegenden, in denen die meisten rassistischen Straftaten begangen werden, in denen es rechtsextreme Gruppen gibt oder wo allgemein das Klima gegenüber Flüchtlingen "besonders feindselig" ist. Es hapert allerdings dabei, diese Regionen definitiv zu bestimmen - denn der Amnesty-Untersuchung zufolge fehlt es der Polizei bisher an einem umfassenden Plan zur Bewertung der Sicherheitslage, um einschätzen zu können, welche Unterkünfte besonders gefährdet seien.

Linke und Grüne: Erschreckende Bilanz

Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Matthias Höhn, nannte den Amnesty-Bericht "erschreckend – und das trotz des erwartbaren Ergebnisses". Einer entsetzlich großen Zahl an Übergriffen auf Geflüchtete, Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und anderen rassistisch motivierten Straftaten stehe eine nur sehr geringe Aufklärungsquote gegenüber. "Vereinzelte Verurteilungen können über das generelle Versagen der Behörden nicht hinwegtäuschen", sagte Höhn. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter erklärte gemeinsam mit der Innenpolitikerin Irene Mihalic: "Der Bericht bestätigt uns in unserer Forderung, dass die Sicherheitsarchitektur in Deutschland verändert werden muss."

Gewerkschaft der Polizei weist Vorwürfe zurück

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) wies die Kritik von Amnesty zurück. Bei der Erstaufnahme von Flüchtlingen hätten Polizisten humanitäre Aufgaben übernommen und dabei gezeigt, dass sie "überhaupt nicht rassistisch" seien, sagte der Bundesvorsitzende Oliver Malchow dem Tagesspiegel. Es sei deshalb "schwer zu ertragen", wenn die Polizei nun in die Nähe eines "institutionellen Rassismus" gerückt werde. Auch der Vorwurf, die Polizei sei nicht hinreichend vorbereitet auf den Schutz von Unterkünften, hält Malchow für nicht nachvollziehbar. "Da wo wir wissen, dass es zu Angriffen kommen könnte, gehen wir dem nach", sagte der GdP-Bundeschef. "Aber wir können nicht vor jede Unterkunft Polizisten stellen", sagte der Gewerkschafter.

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