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Die Raute: Kennzeichen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)

© dpa/Kay Nietfeld

Angela Merkel und ihre Vorgänger: Der schwierige Abschied von der Macht

Sieben Bundeskanzler regierten das Land, keiner ging aus freien Stücken. Macht Angela Merkel es besser als mancher ihrer Amtsvorgänger?

Von Andreas Austilat

Ihr Arbeitstag ist lang, die Verantwortung hoch, das Gehalt mit rund 350.000 Euro jährlich nicht überbordend. Jedenfalls verdient Angela Merkel deutlich weniger als etwa die gerade aus dem Amt geschiedene Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe. Deren Bezüge lagen zuletzt bei mehr als einer halben Million.

Doch wer einmal Bundeskanzler ist, kann von diesem Amt nur schwer lassen. Merkel weiß das: „Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Dann will ich kein halbtotes Wrack sein“, sagte sie bereits vor 20 Jahren.

Wer zu spät geht, der bestraft aber nicht nur sich selbst, sondern auch die eigenen Reihen. Betrachtet man das Schicksal von Merkels sieben Vorgängern, war der Kollateralschaden gerade bei den Langzeitkanzlern beträchtlich.

Über den schweren Abschied von der Macht – ein Blick zurück.

KONRAD ADENAUER
Sie nennen ihn den Alten, manchmal auch den Fuchs. Für den „Spiegel“ ist er 1963 ein Wolf. Jedenfalls sieht das Blatt „ein Naturgesetz“ wirken, „dem der Führer eines Wolfspacks zum Opfer fällt, wenn seine Fänge kraftlos, seine Instinkte stumpf geworden sind“. Gemeint ist Konrad Adenauer, seit 14 Jahren Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Doch am 17. Oktober 1963 ist der Tag der Schlüsselübergabe im Palais Schaumburg. Sein Nachfolger Ludwig Erhard, ebenfalls CDU, ist gerade vorgefahren.

Adenauer sitzt in dem Sessel, in dem er immer sitzt. Der Neue muss am Gästetisch Platz nehmen. So, als könne er ihn noch irgendwie verhindern. So, als könne er ihn noch einmal bloßstellen als unfähigen Dilettanten.

Adenauer scheidet nicht aus Altersgründen aus. Alt war er mit 73 schon beim Amtsantritt. Und die Frage, wann denn endlich seine Nachfolge geregelt würde, begleitet ihn seit Jahren.

Doch ist ein Hochgelobter wie er, Winston Churchill nannte ihn den größten deutschen Politiker seit Bismarck, zu ersetzen? Adenauer glaubt das schon lange nicht mehr. Mehr als einmal gibt er vor, nach einem Nachfolger Ausschau zu halten, er demontiert sie alle.

Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik.
Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik.

© picture alliance/dpa

Dem einen nimmt er die Nähe zu Erhard übel, den anderen, seinen Lieblingsschüler Gerhard Schröder, (nicht verwandt mit dem späteren SPD-Schröder) hält er für eitel, den Fraktionschef Heinrich Krone für unfähig eine Fraktion zu führen. Als er erfährt, dass Ludwig Erhard das Popularitätsranking der Kandidaten anführt, versichert er, „den bringe ich auf Null“.

Das muss Hass sein. Und Adenauer, der Asket, hasst alles an Erhard. Dessen Wirtschaftsmonologe, die Zigarren, von denen Erhard 15 Stück am Tag raucht, die Anzüge, die er mit Asche vollstaubt. Vielleicht stört ihn aber auch, dass Erhard als Vater der D-Mark und des Wirtschaftswunders gilt, ihm als einziger in Sachen Popularität ebenbürtig sein könnte.

Den Zeitpunkt für einen würdigen Abgang hat er verpasst. In der Wahl 1961 verliert die CDU die absolute Mehrheit, seitdem wird hinter Adenauers Rücken der Nachfolger im Einvernehmen mit der FDP ohne ihn verhandelt. Im Frühjahr 1963, nach einer Sitzung des Fraktionsvorstandes, diktiert Adenauer seiner Sekretärin, „keiner hört mehr auf mich“.

Ein halbes Jahr später muss er sein Amt räumen – mitten in der Legislaturperiode. Und die Bundesrepublik? Die hat nur ihr erstes Beispiel für einen Kanzlerabgang. Die Lektion daraus: Eine Partei sollte die Nachfolgefrage rechtzeitig klären. Andernfalls droht Machtverlust.

LUDWIG ERHARD
Das Ende beginnt für Erhard 1966 nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Die Union verliert dort ihre absolute Mehrheit, eine Niederlage, die ihm die Parteifreunde ankreiden, vor allem die Jungen – unter ihnen die noch kaum bekannten Heiner Geißler und Manfred Wörner.

Sie gehen auf „den glücklosen Regierungschef los, wie es noch nie ein Bonner Kanzler erdulden musste“, schreibt der „Spiegel“ 1966.

Das seltsame ist, alle außer Adenauer konnten sich bei seinem Amtsantritt nur drei Jahre vorher auf Erhard einigen, obwohl es schon vorher Leute gab, die ihn einen „Gummilöwen“ nennen, dem es an Härte und Durchsetzungskraft mangelt. Aber das macht ihn ja gerade interessant für jeden Konkurrenten.

Der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) raucht eine Zigarre bei einem Interview am 9.10.1964 in Bonn im Palais Schaumburg.
Der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) raucht eine Zigarre bei einem Interview am 9.10.1964 in Bonn im Palais Schaumburg.

© DPA

Er gilt von Anfang an als Übergangskanzler, Platzhalter für die, die sich nicht trauten, als der Alte noch da war. Und als die Bundesrepublik 1966 ihre erste Wirtschaftskrise erlebt, verblasst der Ruhm des Wirtschaftswunderhelden im Rekordtempo.

Es nutzt Erhard auch nichts, dass er die Wahl von 1965 gewonnen hat. Jetzt lautet sein Rezept „maßhalten“ und klingt hilflos. Hinzu kommen Risse im Verhältnis zu den USA, die den Kanzler in Washington an offene Rechnungen erinnern bezüglich der Stationierungskosten. Plötzlich fürchten alle, mit heruntergezogen zu werden, allen voran die FDP, sie kündigt die Koalition auf.

Wie Adenauer wird er mitten in der Legislaturperiode im November 1966 zum Rücktritt gezwungen, aber diesmal nach nur drei Jahren.

Erhards größter Fehler? Vielleicht, dass er dem Vorgänger nicht sofort den Parteivorsitz entwinden konnte, Adenauer in diesem Amt weiter gewähren und ihn demütigen ließ. Das weiß er jetzt. Es fragt ihn nur niemand mehr um Rat. Obwohl er noch lange dem Bundestag angehören wird.

KURT GEORG KIESINGER
Kurt Georg Kiesinger ist am 28. November 1969 ein Gewinner. Jedenfalls glaubt er das. Immerhin bilden CDU und CSU nach leichten Einbußen mit 46 Prozent die stärkste Fraktion, gefolgt von der SPD mit 42,7 Prozent. Umso plötzlicher trifft ihn der Verlust der Kanzlerschaft. Ihm ist entgangen, wie nahe sich SPD und FDP schon stehen, und dabei sind, etwas für die Republik völlig Neues zu erfinden: die sozialliberale Koalition.

Auch Kiesinger ist als Übergangskanzler angetreten. Gesucht wurde ein Moderator. Denn er soll als erster Bundeskanzler eine große Koalition aus CDU und SPD zusammenbringen. Diese Koalition verfügt über beinahe 90 Prozent der Mandate. Auf der Straße formieren sich protestierende Studenten zur außerparlamentarischen Opposition. Rechtsaußen schafft die NPD den Einzug in mehrere Länderparlamente.

Der frühere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.
Der frühere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.

© Alfred Hennig dpa/lsw

In der Koalition stehen sich gegenüber: Kiesinger, dem vor allem ein großes Redetalent bescheinigt wird, leider auch nicht mehr. Zudem ist er als frühes NSDAP-Mitglied mit später hochrangigem Posten im Nazi-Außenministerium belastet. Er wird von Beate Klarsfeld, die sich der Verfolgung von Nazi-Unrecht verschrieben hat, öffentlich geohrfeigt, was die Aufmerksamkeit für seine Vergangenheit noch steigert.

Auf der anderen Seite ist Willy Brandt, Hoffnungsträger der SPD, von den Nazis verfolgter Emigrant, der nun als erster Sozialdemokrat seit dem Krieg einem Bundeskabinett angehört und für viele ein Symbol des Aufbruchs ist, vielleicht der einzige, der den revoltierenden Studenten etwas zu sagen hat.

Kiesingers Macht erodiert weiter, als er mit Gustav Heinemann einen ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten hinnimmt. Kein anderer Kanzler wird von seinem Amtsverlust derart überrascht. Weshalb er nur kurz leidet. Für seine Partei dauert das Trauma länger – exakt 13 Jahre. Immerhin, Kiesinger ist der erste Kanzler, der seine Regierungszeit regulär zu Ende bringt, allerdings mit nicht ganz drei Jahren in der kürzesten Amtszeit.

WILLY BRANDT
Vielleicht war ja alles ein Missverständnis, wollte Willy Brandt nie Kanzler werden, sondern strebte immer schon nach einer Position, die ihn befreien würde vom politischen Alltag. Zumindest zeigt er Anzeichen von Erleichterung, als er sein Amt 1974 nach fünf Jahren zur Verfügung stellt.

Sein persönlicher Referent ist als Stasi-Spion enttarnt worden, ausgerechnet eine Woche bevor in Bonn die Ständige Vertretung der DDR eröffnen soll – so etwas ähnliches wie eine Botschaft des anderen deutschen Staates. Dabei gilt die Entspannungspolitik neben der Aussöhnung mit Osteuropa bis heute als Brandts größte Leistung.

War dieser Rücktritt nötig? Hat nicht Helmut Schmidt, der lange als sein Widersacher galt, ihm geraten, das jetzt „durchzustehen wie ein Mann“? Aber dazu ist er eben zu schlapp, zu weich, der Mann der großen Gesten, der auch mal kleine Sünden schätzt – so das gängige Urteil.

Willy Brandt (SPD).
Willy Brandt (SPD).

© imago stock&people

Tatsächlich muss Brandt von Anfang an kämpfen. Er forciert die Annäherung an die DDR und die Aussöhnung mit Osteuropa. Das Bild seines Kniefalls in Warschau wird zum Symbol – aber es erregt auch den massiven Protest konservativer Kreise. Ein Abgeordneter der SPD und mehrere der FDP wenden sich ab.

1972 sieht die Union den Moment der Rache für gekommen. Im Bundestag wird über ein konstruktives Misstrauensvotum abgestimmt, die erwartete Niederlage bleibt aus. Schon damals ist von Bestechung die Rede, sehr viel später gilt als sicher, dass die Stasi entscheidende Stimmen gekauft hat. Der Codename der Operation lautet „Brandtschutz“.

Ungeachtet aller Gerüchte gewinnt Willy Brandt die Wahl 1972, macht die SPD mit 45,8 Prozent erstmals zur stärksten Partei. An Charisma können es nur wenige mit ihm aufnehmen. Doch es heißt, seine Minister tanzen ihm auf der Nase herum. Interessieren ihn die Mühen der Ebene nicht? Ihm wird eine dünne Haut bescheinigt, er sei selbstquälerisch bis an den Rand der Verzweiflung.

Heute hätte die Diagnose wahrscheinlich Burnout gelautet. Sein Rücktritt wird ihm als große Geste ausgelegt. Der erste Abgang, der mehr oder weniger freiwillig erfolgt.

Wenn es so war, dann hat er genau die richtige Therapie gewählt. Denn Brandt zieht sich nicht zurück. Im Gegenteil. Er bleibt Parteivorsitzender bis 1987 – und auf immer die Ikone der deutschen Sozialdemokratie.

HELMUT SCHMIDT
Der Kanzler wird die Vertrauensfrage stellen, wissend welches Risiko er damit eingeht. Dass nämlich seine Koalition zerbricht. Jetzt, im Februar 1982. Helmut Schmidt sieht sich in einer Zwangslage. Zwischen den Linken in seiner Partei, die keine weiteren Einschnitte ins soziale Netz dulden wollen und der FDP, die darauf drängt, die Sozialkassen künftig auch auf Kosten der Rentner zu entlasten.

Sein Problem hat zwei Namen. Der eine lautet Willy Brandt, Parteivorsitzender und Galionsfigur der Parteilinken. Dass es ein Fehler war, dieses Amt nicht selbst zu übernehmen, glaubt er seit der Nachrüstungsdebatte um atomare Mittelstreckenraketen. Der Widerstand dagegen formiert sich auch in der SPD. Der andere heißt Hans-Dietrich Genscher, Vorsitzender der FDP. Anders als sein Vorgänger nähert sich Genscher der CDU immer mehr an.

Helmut Schmidt ist als Macher angetreten, nicht als Visionär, wie sein Vorgänger. Unnachgiebig in der Auseinandersetzung mit dem Terror genehmigt er den ersten bewaffneten Einsatz deutscher Kräfte bei der Erstürmung einer entführten Lufthansamaschine. Was ihn noch populärer macht. Aber ein Gespür für den Wandel in der Gesellschaft, der sich auch in der Antiatomkraft- und in der Friedensbewegung ausdrückt, hat er nicht.

Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD).
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD).

© picture alliance / dpa

1982 ziehen die Grünen bei der Niedersachsenwahl in den vierten Landtag ein, die SPD verliert dort deutlich. Schmidt gibt seiner Partei die Schuld an der Niederlage – und ihrem Vorsitzenden Brandt, der mit den Grünen redet. Weil es nicht gelungen sei, ein klares, einheitliches Bild abzugeben.

Die Vertrauensfrage im Februar gewinnt Schmidt. Doch ein halbes Jahr später ist es vorbei. Die FDP kündigt die Koalition, mit seiner Minderheitenregierung unterliegt Schmidt einem konstruktiven Misstrauensvotum. Er ist der zweite Kanzler nach Erhard, der mitten in der Legislaturperiode durch Koalitionswechsel stürzt.

Ein halbes Jahr später verhandelt die SPD ihre Position zum Nato-Doppelbeschluss und zur Aufstellung neuer atomarer Mittelstreckenraketen. Von 400 Delegierten sind nur 15 dafür, unter ihnen Helmut Schmidt. Die Lehre daraus? Auch ein starker Kanzler kann nicht gegen seine eigene Partei regieren.

Helmut Schmidt, der im Amt mehrere Herzstillstände erlitten hat und einen Schrittmacher benötigt, scheidet 1987 für immer aus dem Bundestag aus. Er übernimmt keine politischen Ämter, macht aber Karriere als Elder Statesman und wird beinahe 100 Jahre alt.

HELMUT KOHL
Er hätte sich das ersparen können, ja, vielleicht sogar müssen. Wenn er nach der knapp gewonnenen Wahl 1994 den Rückzug eingeleitet, einen Nachfolger aufgebaut hätte. 1997 scheint Kohl dazu bereit zu sein, jedenfalls hat er das später so erklärt. Auf dem Parteitag in Leipzig, will er angeblich Wolfgang Schäuble als Nachfolger benennen. Ein Nachfolger allerdings, der sein Amt erst nach der nächsten Wahl im Jahr 1998 antreten soll, vielleicht sogar noch später. Er tut nicht einmal das.

Wie Adenauer, als dessen Enkel er sich selbst bezeichnet, glaubt er ganz offensichtlich, nur er könne Wahlen gewinnen. Weil nur er den Euro durchsetzen könne, mit dessen Einführung er dann nicht nur der Kanzler der Deutschen, sondern auch der der europäischen Einheit wäre. Und außerdem, soll er, den der Mantel der Geschichte umweht, im Meinungstief abtreten? Kohl kündigt 1997 ohne Absprachen und im Fernsehen seine sechste Kanzlerkandidatur an.

In seiner Partei fehlt es nicht an Stimmen, die bestreiten, dass er das Ruder noch einmal herumreißt. „Aussitzen“ und „Reformstau“, sind die Schlagworte Mitte der 90er Jahre, die versprochenen blühenden Landschaften in den neuen Ländern sind ausgeblieben. Stattdessen fordert Bundespräsident Roman Herzog 1997, dass endlich „ein Ruck“ durch Deutschland gehen müsse.

Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU).
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU).

© Alfred Hennig dpa/lsw

Das sind die Voraussetzungen, mit denen Helmut Kohl in seinen letzten Wahlkampf im Herbst 1998 geht. „Weltklasse für Deutschland“ steht auf den Plakaten der Union, sie erinnern noch einmal daran, dass es Kohl war, der mit den Führern der Welt die deutsche Einheit ausgehandelt hat, gegen alle Widerstände. Als Provinzler wurde er einst belächelt, als Birne karikiert. Nun ist er seit 14 Jahren Kanzler, solange wie niemand vor ihm. Er wird alles allen zeigen.

Die Wahlen 1998 enden mit der katastrophalsten Niederlage der CDU seit 1949. Die SPD wird stärkste Partei, wie weiland unter Brandt. Und koaliert mit den Grünen, die zum ersten Mal ins Bundeskabinett einziehen. Kohl gratuliert seinem Nachfolger, tritt anders als Adenauer auch vom Parteivorsitz zurück, bleibt aber wie jener als Grantler präsent und untergräbt die Autorität seiner Nachfolger. Erst die Parteispendenaffäre beendet alle möglichen Ambitionen auf eine etwaige Rückkehr.

Eines aber gelingt ihm: Er ist seit Kiesinger erst der zweite Kanzler, der regulär am Ende seiner Legislaturperiode aus dem Amt scheidet.

GERHARD SCHRÖDER
Guido Westerwelle ist pikiert, fragt den Nochkanzler, was er denn vor der Sendung getan habe. Jeder weiß, was der FDP-Chef denkt: getrunken möglicherweise. Denn einen derartigen Auftritt hat das Fernsehvolk an einem Wahlabend noch nicht gesehen, wie ihn Gerhard Schröder am 18. September 2005 hinlegt.

Der reklamiert nicht nur den Sieg für sich und seine Partei – obwohl alle Hochrechnungen die Union wenn auch knapp vorne sehen. Er spricht seiner Gegenkandidatin mit breitem Grinsen auch jede Eignung ab, dieses Amt überhaupt jemals ausüben zu können. Erst später nennt er seinen Auftritt „suboptimal“.

Tatsächlich ist Schröder wohl randvoll mit Adrenalin und sieht die Chance gegen alle Prognosen doch noch gewonnen zu haben. Was ihn erneut zu einem der größten Wahlkämpfer in der Geschichte der Bundesrepublik machen würde.

Schröder und Fischer stehen an diesem Abend seit sieben Jahren der ersten rot-grünen Regierungskoalition überhaupt vor. Sie haben in dieser Zeit Mut bewiesen, etwa indem sie den Bruch mit den USA riskieren, als sie George W. Bush im Irakkrieg die Gefolgschaft verweigern.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).

© picture-alliance / dpa

Und sie haben ihren Anhängern eine Menge zugemutet. Schröder mit der Agendapolitik und den Sozialreformen, die den „Genossen der Bosse“ immer weiter von den traditionellen Wählern in der Arbeiterschaft entfremdet haben. Und Fischer, der mit seiner Zustimmung zum Engagement im Jugoslawienkrieg sich die Gegnerschaft vieler Grüner Anhänger gesichert hat.

Die Quittung droht schon 2002. Aber vor allem Schröder legt einen sensationellen Wahlkampf hin, wie er telegen in Gummistiefeln der Flutkatastrophe an der Elbe begegnet. Das gleiche Kunststück soll ihm jetzt wieder gelingen. Nach der verlorenen NRW-Wahl im Frühjahr 2005, bei der Rhein und Ruhr nach 32 Jahren für die Sozialdemokraten verloren gehen, riskiert er Neuwahlen.

Diesmal gibt es keine Flut, trotzdem holt Schröder einen großen Rückstand auf und erreicht immerhin ein Patt. Keiner erringt an diesem Wahltag die Mehrheit, weil niemand mit der PDS koalieren will und schwarz-gelb-grün keine Aussicht hat. Die Lösung lautet dann große Koalition unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel. Gerhard Schröder ist raus, sein Fernsehauftritt daran nicht unschuldig.

Schröder mag sich mit dem Gedanken trösten, dass es seinen Vorgängern oft nicht besser erging. Die Macht hat sie für vieles entschädigt, ihnen Bedeutung, vielleicht Größe verliehen. Doch drohte der Verlust, machte sich mancher Mächtiger selbst klein.

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