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Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau.

© Robert Michael/dpa

Angela Merkel besucht erstmals Auschwitz: „Ich empfinde tiefe Scham“

Im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz mahnt die Kanzlerin, die Erinnerung an die deutschen Verbrechen wachzuhalten – und Antisemitismus zu bekämpfen.

Die Fotos in warmen Sepia-Tönen füllen eine ganze Wand, vom Boden bis zur Decke. Familienbilder, auf denen Mutter, Vater und Kinder in die Kamera lächeln, hängen neben klassischen Porträts von Menschen, die für die Aufnahme offenbar ihre beste Kleidung tragen. Jedes dieser Fotos hat eine Geschichte, von der die Betrachter jedoch nur das bis heute unfassbare Ende erfahren.

Die Bilder stammen aus dem Gepäck der Menschen, die im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Direkt vor dieser Erinnerungswand hält Angela Merkel an diesem Freitag eine Rede. Es ist der erste Besuch der Bundeskanzlerin in Auschwitz, einem Ort, der wie kein anderer für den Holocaust steht.

Kann man an diesem Ort, der jedem die Sprache verschlägt, überhaupt die richtigen Worte finden? Sollte man dort überhaupt als deutsches Regierungsmitglied reden? Merkels Amtsvorgänger Helmut Schmidt, der das ehemalige Vernichtungslager 1977 als erster Kanzler besuchte, sagte damals, eigentlich gebiete dieser Ort es, zu schweigen, doch er sei sicher, dass der deutsche Bundeskanzler dort nicht schweigen dürfe.

Vor Entsetzen „muss man eigentlich verstummen“

Auch Merkel betont am Anfang ihrer Rede, dass es ihr alles andere als leicht falle, in Auschwitz zu sprechen. „Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan wurde, muss man eigentlich verstummen.“ Angesichts der von Deutschen begangenen barbarischen Verbrechen empfinde sie „tiefe Scham“. Es seien „Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten“. In dem Vernichtungslager waren mehr als 1,1 Millionen Menschen ermordet worden, die meisten von ihnen waren Juden.

Vor ihrer Rede ist sie mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki durch das Tor mit dem zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“ geschritten, vor der so genannten Todeswand, einem Hinrichtungsplatz, hat sie einen Kranz niedergelegt. Später wird sie auch die Rampe in Birkenau sehen, wo die Züge mit Deportierten ankamen, und die Ruinen der Gaskammern.

Doch so schwer es an diesem Ort auch falle: „Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein“, sagt die Kanzlerin. Auschwitz verpflichte dazu, die Erinnerung wachzuhalten. „An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bereiten – das ist eine Verantwortung, die nicht endet“, betont Merkel in Auschwitz. „Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität.“ An anderer Stelle sagt sie es noch deutlicher: „Wir dürfen niemals vergessen.“

Deutschland unterstützt Auschwitz-Stiftung

Die Erinnerung an den Holocaust wachhalten will die Stiftung Auschwitz-Birkenau, deren zehnjähriges Bestehen der offizielle Anlass für Merkels Besuch ist. Die Stiftung, die auf eine Initiative des ehemaligen polnischen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski zurückgeht, setzt sich für den Erhalt der Gedenkstätte sowie die Bewahrung der historischen Gebäude und Gegenstände ein. Einen Tag vor Merkels Reise nach Auschwitz hatten sich Bund und Länder darauf verständigt, gemeinsam 60 Millionen Euro für die Stiftung Auschwitz-Birkenau aufzubringen. Damit wird der bisherige deutsche Beitrag verdoppelt.

Angela Merkel hört dem Historiker Piotr Cywinski zu.
Angela Merkel hört dem Historiker Piotr Cywinski zu.

© Jakub Porzycki/Agencja Gazeta via REUTERS

Diese Erinnerungskultur, deren Bedeutung die Kanzlerin in Auschwitz betont, ist keineswegs schon seit Jahrzehnten selbstverständlich in Deutschland. So betonte zwar auch Helmut Schmidt in Auschwitz, dass es ohne Erkenntnis der Vergangenheit keinen Weg in die Zukunft geben könne. Doch nicht ein einziges Mal erwähnte er in seiner ganzen Rede die in Auschwitz ermordeten Juden.

Merkels Mahnung, einen Schlussstrich dürfe es nicht geben, „und auch keine Relativierung“ der Verbrechen, lässt sich als Botschaft an jene in Deutschland verstehen, die die Zeit des Nationalsozialismus nur als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte betrachten.

Zugleich nutzt die Kanzlerin ihre Rede für ein Plädoyer gegen Antisemitismus und Intoleranz. „Wir erleben einen Besorgnis erregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikten.“ Es gebe „einen Angriff auf die Grundwerte der liberalen Demokratie und einen gefährlichen Geschichtsrevisionismus im Dienste einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, warnt die Kanzlerin. „Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus.“

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