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Attacken gegen Einsatzkräfte sind unberechenbar geworden, kritisieren Helfer. An Silvester werden Polizisten gezielt mit Feuerwerkskörpern beschossen.

© RubyImages/M. Golejewski

Angefeindet im Einsatz: Aggressivität gegen Polizisten und Rettungskräfte nimmt zu

Von Beleidigungen bis zu Messerangriffen: Immer wieder gibt es Übergriffe auf Helfer. Oft kommen die Attacken völlig unvermittelt. Was steckt dahinter?

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Es ist ein Fall von häuslicher Gewalt, zu dem der Berliner Polizist Marco Schmidt und seine Kollegen eines Abends gerufen werden. Ein betrunkener Mann hat zu Hause randaliert, seine Frau rief die Polizei. Die Beamten greifen den Mann schließlich auf der Straße auf, wollen erst mal nur seine Personalien aufnehmen und weitere Maßnahmen prüfen. Doch die Lage eskaliert sofort. Während die Polizisten ihm Handschellen anlegen, tritt der Mann wild um sich. Er verletzt mehrere Beamte. Schmidt wird am Oberkörper getroffen. „Es hätte nicht viel gefehlt und der Tritt wäre ins Gesicht gegangen“, sagt er.

Von solchen Geschichten kann Marco Schmidt viele erzählen. Der junge Mann – Anfang 20, Kurzhaarschnitt, offener Blick – ist Mitglied der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und fährt seit drei Jahren Streife in seinem Revier im Osten der Stadt. „Ich frage mich oft im Dienst: Wie kommt es zu so einer Verrohung? Mit der Intensität der Angriffe und Beleidigungen hätte ich vor meiner Ausbildung nicht gerechnet“, sagt er. Schmidt heißt in Wirklichkeit anders – er will nicht, dass sein Name in der Zeitung steht. Doch klar ist: Gewalt gegen Polizisten, aber auch gegen Feuerwehrleute und andere Rettungskräfte wie Sanitäter ist ein wachsendes Problem.

Der Berliner GdP-Sprecher Benjamin Jendro beobachtet dabei einen Trend: Die Attacken gegen Einsatzkräfte seien unberechenbarer geworden. „Sie können bei einer Demo aus dem linken Milieu damit rechnen, dass die Polizei angegriffen wird“, sagt er, „Aber Sie können nicht damit rechnen, dass Ihnen ein Golfschläger um die Ohren gehauen wird, wenn Sie zu einem Fall häuslicher Gewalt gerufen werden. Oder dass einer sofort zum Schlag ausholt, wenn Sie am Alexanderplatz nur eine Personalie feststellen wollen.“

Das Spektrum reicht von Beschimpfungen bis zu Messerattacken. Auch kommende Woche, an Silvester, steht Polizisten und Rettungskräften eine gefährliche Nacht bevor. In Großstädten werden zum Teil gezielt Feuerwerkskörper auf Einsatzkräfte abgefeuert. „Ich rechne mit dem Schlimmsten“, sagt Sascha Guzy, der Vorsitzende des Landesfeuerwehrverbandes Berlin.

Wie oft kommen Angriffe vor?

Pro Tag werden bundesweit Polizisten bei mehr als 100 Angriffen Opfer. Das ergibt sich aus einem Lagebild des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2018. Das BKA listet insgesamt 38.109 Attacken auf. Das reicht von Nötigung und Bedrohung über Widerstand gegen die Staatsgewalt und gefährliche Körperverletzung bis hin zu Totschlag und Mord. Viele Beamte wurden mehrmals Opfer, sie werden allerdings pro Fall immer wieder als neues Opfer gezählt. So ergibt sich im Lagebild eine Summe von knapp 80.000 Beamten, die von Gewalt betroffen waren. Getötet wurde niemand, bei den 50 Fällen von Mord und Totschlag in der Bilanz handelte es sich um Versuche. Doch das nimmt den Zahlen nicht den Schrecken. In Berlin gibt es laut GdP pro Tag etwa 20 Angriffe auf Polizeibeamte.

Bei Rettungskräften ist die Häufigkeit der Angriffe weniger gut dokumentiert. Die zugehörigen Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik halten Fachleute für wenig aussagekräftig. Viele Feuerwehrleute melden Angriffe auf sich nicht. Die Dunkelziffer ist also hoch. Der Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum befragte im Frühjahr 2017 etwa 4500 Einsatzkräfte von Feuerwehr und Rettungsdiensten aus Nordrhein-Westfalen. 64 Prozent der Befragten gaben an, in den zwölf Monaten vor der Umfrage Opfer von Gewalt geworden zu sein.

Wer sind die Angreifer?

Eine große Gefahr für Einsatzkräfte geht von Extremisten aus. Polizisten werden besonders häufig von Reichsbürgern angegriffen, die den Staat mit wachsender Aggressivität ablehnen. Grausiger Höhepunkt war im Oktober 2016 der Mord im bayerischen Georgensmünd. Der Reichsbürger Wolfgang Plan schoss auf ein Spezialeinsatzkommando, das dem Mann ein Waffenarsenal wegnehmen wollte. Ein Polizist wurde tödlich getroffen. Zwei Monate zuvor hatte in Sachsen-Anhalt der Reichsbürger Adrian Ursache auf Polizeibeamte gefeuert, die das überschuldete Grundstück des Mannes räumten. Ein Polizist wurde am Hals verletzt.

Auch Linksextremisten und Islamisten lassen ihrem Hass auf die Polizei ebenfalls freien Lauf. Autonome lieferten sich im Juli 2017 am Rande des G20-Gipfels in Hamburg stundenlange Straßenschlachten mit den Einsatzkräften. Zudem gibt es die Taktik der permanenten Nadelstiche. Ein markantes Beispiel aus Berlin: Im Stadtteil Friedrichshain werden in der Rigaer Straße, ringsum das ehemals besetzte Haus mit der Nummer 94, immer wieder Polizeibeamte von Autonomen attackiert.

Eine heimtückische Attacke aus dem Salafistenmilieu erlebten zwei Bundespolizisten in Hannover. Im Februar 2016 patrouillierten sie im Hauptbahnhof, als sich eine Jugendliche mit Kopftuch näherte. Die 15-jährige Safia S. zog plötzlich ein Gemüsemesser und stach einem Beamten in den Hals. Der Polizist überlebte nur knapp. Die Täterin war Sympathisantin der Terrormiliz „Islamischer Staat“.

Zusätzliche Sorge bereitet die Verrohung in der Gesellschaft insgesamt – die sowohl Polizei als auch Rettungskräfte zu spüren bekommen. „Die Aggressivität ist gestiegen“, sagt Guzy, der seit 24 Jahren bei der Feuerwehr ist. „Selbst normale Verkehrsteilnehmer reagieren zum Teil sehr aggressiv, wenn ein Feuerwehrauto die Straße blockiert und sie sich deshalb keinen Parkplatz suchen können.“

Guzy berichtet auch von einer Situation in einem Wohngebiet – „kein Brennpunkt“ – da seien er und seine Kameraden einem Patienten zur Hilfe gekommen, der unter Drogen- oder Medikamenteneinfluss stand. Die umstehenden Nachbarn und Familienmitglieder fingen an, die Feuerwehrleute zu bespucken, zu treten und zu schlagen. Mehrere Retter wurden verletzt. Das kann Ihnen jeden Tag passieren“, sagt Guzy. Für Erschrecken sorgte 2017 auch der Fall des Autofahrers, der in Berlin Rettungssanitäter bepöbelte und behinderte, als die ein einjähriges Kind animieren wollten.

Der junge Polizist Schmidt sagt, in vielen Fällen seien Alkohol und Drogen im Spiel. Er berichtet von einer Situation, in der er und Kollegen einen Mann davon abgehalten hätten, sich umzubringen. Der Mann stand unter Drogen, sollte zum Selbstschutz Handschellen angelegt bekommen. „Da hat er angefangen, um sich zu beißen.“ In einem anderen Fall sei ein Betrunkener beklaut worden, während er schlief. „Wir haben ihn dann geweckt und er hat uns sofort bepöbelt – die Leute, die ihm eigentlich helfen wollten.“

Ein Trend ist laut GdP-Mann Jendro, dass sich bei Einsätzen, zum Beispiel bei einer Festnahme, immer öfter Unbeteiligte von außen einmischten und die Polizisten attackierten. Ein extremer Fall ereignete sich im Dezember in München, als ein Polizist einen Mann kontrollierte. Währenddessen ging ein Angreifer von hinten auf den Beamten los und verletzte ihn mit einem Messer schwer.

Woher kommt die Verrohung?

Experten wie der Münchner Psychologe Dieter Frey glauben, dass ein Mix aus verschiedenen Faktoren dazu führt, dass der Respekt voreinander verloren geht und Menschen schneller ausrasten. Da sei zum einen das Gefühl des Kontrollverlustes im eigenen Leben – etwa durch Globalisierung und Digitalisierung: Die Leute suchten sich dann Sündenböcke für ihren Frust. Dieser entlädt sich oftmals gegen Staatsdiener. Ein weiterer Faktor ist laut Frey das Netz, wo eine aggressivere und unpersönlichere Kommunikation stattfinde. Und es stehe heute für viele Menschen ihre Selbstverwirklichung im Vordergrund. Frey sagte dem Deutschlandfunk, er stelle einen zunehmenden Narzissmus in unserer Gesellschaft fest, nach dem Motto: „Ich lasse mich nicht einschränken, jetzt komme ich, ich habe Vorrang.“ In den Augen von Feuerwehrmann Guzy spielt zusätzlich der Faktor Großstadt eine Rolle: „Auf dem Land sind die Menschen entspannter. In Städten wie Berlin stehen alle unter Dauerstrom.“

Welche Folgen haben die Angriffe?

Die Erfahrung von Gewalt und die permanente Gefahr, Opfer zu werden, bedeuten für Einsatzkräfte eine oft unerträgliche Belastung. Bis zu 30 Prozent der von körperlichen Attacken getroffenen Polizeibeamten „entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung“, sagte Sven Steffes-Holländer im März dem Tagesspiegel. Er ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Chefarzt in der Heiligenfeld-Klinik in Berlin. Der Mediziner hat sich auf die Behandlung attackierter Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter spezialisiert. Er sagt, bei mehr als 70 Prozent der Patienten mit chronisch posttraumatischer Belastungsstörung gebe es „im Verlauf mindestens eine weitere psychische Störung wie Depression, Angst oder Sucht“. Und mit steigendem Alter wachse das Risiko: „Wenn ein Polizist 25 Jahre Einsätze fährt, dann ist die Gefahr des Ausgebranntseins hoch“, warnte Steffes-Holländer.

Was kann helfen?

Feuerwehrmann Guzy hält neben konsequenter Strafverfolgung auch Deeskalationstrainings für sinnvoll – also Workshops, in denen beispielsweise Feuerwehrleute lernen, wie sie Situationen mit aggressiven Personen entschärfen können.

Um Einsatzkräfte zu schützen, hat die Bundesregierung 2017 auch die entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches reformiert und das Strafmaß verschärft. Doch ob das wirklich geholfen hat, bezweifeln Experten. Die Taten geschehen häufig affektiv: Wer Einsatzkräfte angreift, denkt in dem Moment nicht über das Strafmaß nach.

Der junge Polizist Schmidt findet es frustrierend, dass die Gewalt gegen ihn und seine Kollegen kaum Konsequenzen habe. „Ich wurde getreten. Man hat versucht mich zu beißen, mich mit dem Messer bedroht und zu Boden gerissen. Das habe ich angezeigt, aber in keinem dieser Fälle ist es zur Verurteilung gekommen.“ Oft würden Verfahren gegen eine Geldstrafe eingestellt. In einem Fall sollte der Täter vor Gericht, aber weil ein Zeuge fehlte, wurde der Termin vertagt. „Das ist jetzt auch schon wieder ein halbes Jahr her“, sagt Schmidt.

Er hat das Gefühl, dass aus der Politik zu wenig Rückendeckung kommt. Etwa, als auf Twitter Bilder von Helmen herumgingen, die Polizisten bei einer Demo in der Rigaer Straße getragen hatten. Deutlich waren die Einschläge der Pflastersteine auf den Helmen zu sehen. „Da hätte ich mir deutlichere Ansagen aus der Politik gewünscht.“

GdP-Mann Jendro würde es befürworten, wenn Angriffe gegen Polizisten oder Rettungskräfte auch dadurch geahndet werden, dass dem Täter in Rechnung gestellt wird, wenn verletzte Einsatzkräfte ausfallen. „Viele Polizisten sind heute dauerkrank wegen solcher Vorfälle“, sagt er. Vor drei Jahren sei eine Kollegin im Görlitzer Park von einem 17-jährigen Amerikaner so malträtiert worden, dass sie bis heute Schrauben und Platten im Kiefer habe. Es sei noch immer nicht klar, wann sie zurückkomme.

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