zum Hauptinhalt

An der Spitze des Bundestags: Die Hüter des hohen Hauses

Bundestagspräsidentinnen und -präsidenten müssen Konflikte nicht nur aushalten, sondern suchen und austragen. Das wird auch Bärbel Bas herausfordern.

Von Hans Monath

Man kann nicht sagen, dass die Geschichte der Bundestagspräsidenten an ihrem Anfang unter einem guten Stern stand. Nur ein Jahr und wenige Tage lang amtierte Erich Köhler (CDU), der am 7. September 1949 zum ersten Präsidenten des neu geschaffenen Parlaments und damit ins protokollarisch zweitwichtigste Staatsamt nach dem des Bundespräsidenten gewählt worden war.

Denn schnell wurde deutlich, dass ihn die Leitung kontrovers verlaufender Plenarsitzungen überforderte, was auch damit zusammenhing, dass er krank war. Als Köhler sich im Herbst 1950 mit der Presse anlegte und damit selbst in die Kritik geriet, erlitt er einen Nervenzusammenbruch und erklärte seinen Rücktritt.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Seine zwölf Nachfolgerinnen und Nachfolger haben ihr Amt in den 71 Jahren, die seither vergangenen sind, meist mit mehr Erfolg ausgeübt. Einer von ihnen, Philipp Jenninger (CDU), musste wegen einer missverständlichen Rede zum Nationalsozialismus 1988 zurücktreten. Da allerdings hatte er schon vier Amtsjahre hinter sich, in denen er sich auch bei der Opposition große Achtung erworben hatte.

Wenn der Bundestag am Dienstag Bärbel Bas wählt, wird sie die dritte Frau an seiner Spitze sein. Es ist 49 Jahre her, dass Annemarie Renger (SPD) und fast 34 Jahre dass Rita Süssmuth (CDU) die Leitung übernahmen. Politisches Gewicht entfalteten die Amtsinhaber, indem sie auf eine faire Debattenkultur im Haus achteten, den Gestaltungsanspruch des Parlaments nach außen deutlich machten und auch die Regierung in die Schranken wiesen, wenn die Exekutive den Bundestag übergehen wollte.

Vorgänger und Nachfolgerin in Aktion: Wolfgang Schäuble hört als Sitzungsleiter im Plenum des Bundestages zu, während die SPD-Abgeordnete Bärbel Bas ihre Rede hält.
Vorgänger und Nachfolgerin in Aktion: Wolfgang Schäuble hört als Sitzungsleiter im Plenum des Bundestages zu, während die SPD-Abgeordnete Bärbel Bas ihre Rede hält.

© imago images/Christian Spicker

Auch der scheidende Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) nahm sich immer wieder die Freiheit, Kanzlerin Angela Merkel zu widersprechen, etwa wenn er mit Blick auf die Corona-Politik der Bundesregierung im vergangenen Jahr mahnte, dem Schutz des Lebens nicht alles unterzuordnen.

Mit seiner Wahl verband die Mehrheit des Hauses 2017 auch die Hoffnung, der in vielen politischen Funktionen erfahrene CDU-Politiker werde Kraft seiner Persönlichkeit mit dem provokativen Stil der 2017 neu in den Bundestag gewählten AfD umgehen können. Er enttäuschte sie nicht. 

Schäuble amtierte nur vier Jahr – sein Vorgänger Norbert Lammert (CDU) dagegen ist mit drei vollständigen Legislaturperioden heute der Rekordhalter in diesem Amt. Der Honorarprofessor, der auch komplizierteste Satzkonstruktionen stets zu einem korrekten Ende bringt, verteidigte vor allem in der Eurokrise die Rechte des Bundestages gegen die auf Eile drängende Regierung. Die „Zeit“ nannte ihn einen Intellektuellen, der Merkel „als Hüter der Parlamentssouveränität nervte und sich in allen politischen Lagern Respekt verschaffte“.

Erwartungen von verschiedener Seite austarieren und Spannungen aushalten musste jeder und jede an der Spitze des Hauses. Da die stärkste Fraktion die Präsidentin oder den Präsidenten stellt, gehörten die meist der gleichen Fraktion an wie Kanzlerin oder Kanzler. Nur in der Zeit der sozialliberalen Koalition führten mit Karl Carstens (1976 bis 1979) und Richard Stücklen (1979 bis 1983) zwei Unionspolitiker das Haus, weil die SPD zwar den Kanzler stellte, aber nicht die meisten Abgeordneten. 

Überparteilichkeit ist eine zentrale Anforderung an die Amtsinhaberin oder den Amtsinhaber, denn nur wenn alle Fraktionen im Plenum ihre Argumente vortragen können, wird das Parlament lebendig- auch dafür soll die Sitzungsleiterin oder der Sitzungsleiter sorgen. Zugleich muss sich die Präsidentin oder der Präsident zur eigenen Partei bekennen und ihre eigene politische Überzeugung deutlich machen können, wenn sie oder er mit eigener Autorität wirken will. „Die größte Herausforderung besteht darin, das Haus fair und gerecht zu führen und nach außen zu vertreten, ohne als Politiker ein Eunuch zu werden“, sagt Wolfgang Thierse (SPD), der erste ostdeutsche Bundestagspräsident (1998 bis 2005).

Thierse selbst lief nie Gefahr, seine eigene Meinung zu verstecken. So tobte Kanzler Gerhard Schröder (SPD), als Thierse vor dem Absturz Ostdeutschlands warnte. Die Union verzieh ihm lange nicht, dass er wegen Helmut Kohls Parteispendenaffäre eine Millionenstrafe gegen die CDU verhängte und ihr die staatlichen Zuschüsse kürzte. Außerdem verstieß Thierse nach Ansicht von CDU und CSU gegen das Gebot der Überparteilichkeit, weil er im Amt weiter als SPD-Vize wirkte – eine Praxis, der das Bundesverfassungsgericht später seinen Segen erteilte. 

Ein Bundestagspräsident darf als Politiker kein Eunuch werden, warnt Wolfgang Thierse, der das Amt von 1998 bis 2005 ausübte.
Ein Bundestagspräsident darf als Politiker kein Eunuch werden, warnt Wolfgang Thierse, der das Amt von 1998 bis 2005 ausübte.

© imago/IPON

Schließlich ist eine Bundestagspräsidentin oder ein -präsident auch Chef einer rund 3000-köpfigen Verwaltung, zu der Polizisten genauso gehören wie Akademiker vom Wissenschaftlichen Dienst.

Auch eine weitere große Aufgabe wartet auf Bärbel Bas, nämlich doch noch eine Wahlrechtsreform auf den Weg zu bringen, die eine weitere Aufblähung des Bundestags womöglich über die Größe des chinesischen Volkskongresses hinaus verhindert.

Ihr Vorgänger Schäuble hatte sich in vielen Gesprächen mit den Fraktionen jahrelang intensiv um eine Lösung bemüht. „Leider ist ein Konsens unter allen Fraktionen gescheitert, und das zählt zu meinen größten politischen Enttäuschungen“, lautet seine Bilanz.

Anders als viele ihrer Vorgänger war die Duisburgerin Bas, die sich nach Hauptschulabschluss und Lehre als Bürogehilfin auf dem zweiten Bildungsweg akademische Abschlüsse erarbeitete, einem größeren Publikum kaum bekannt, bevor sie als Bundestagspräsidentin vorgeschlagen wurde.

Die Sozialdemokratin gilt in ihrer Fraktion als geerdet, standfest und selbstbewusst. Achim Post, der sie als Chef der SPD-Landesgruppe NRW gut kennt, sagt voraus, dass sie ihr Amt „im Sinne eines starken und bürgernahen Parlamentarismus“ ausüben wird. Sofern Bärbel Bas sich dieses Ziel zu eigen macht, wird sie dafür einen ganz eigenen Stil entwickeln müssen.

Zur Startseite