zum Hauptinhalt
Nach einem russischen Raketenangriff im Februar schlendert ein Mann durch einen Kiewer Vorort.

© Dimitar DILKOFF / AFP

Amnesty International erhebt schwere Vorwürfe: Hat die Ukraine durch ihre Kriegstaktik wirklich Zivilisten gefährdet?

Ein Bericht von Amnesty International sorgt in der Ukraine für heftige Empörung. Experten halten ihn für undifferenziert.

Ende März schlugen russische Raketen in einem Kiewer Kaufhaus ein, mehr als das verkohlte Gerippe des mehrstöckigen Gebäudes blieb nicht zurück. Acht Menschen starben. Die Ukraine verurteilte die Attacke gegen zivile Ziele aufs Schärfste.

Das russische Verteidigungsministerium wiederum rechtfertigte den Angriff damals, ukrainische Truppen hätten das Gelände als Raketenlager genutzt. Eigens veröffentlichte Drohnen-Aufnahmen zeigten tatsächlich militär-ähnliche Fahrzeuge in der Nähe des Einkaufszentrums und sollten als Beleg dienen. Ob das Video echt ist, ließ sich wie so viele Informationen in diesem Krieg nicht endgültig verifizieren.

Der Streit um den Beschuss des Kaufhauses in Kiew steht beispielhaft für viele weitere, ähnliche Fälle, die sich in dem Krieg bisher ereigneten. Sie zeigen das Dilemma, vor dem die Regierung und Militärführung in Kiew steht: Die Verteidigungspläne des Landes in Einklang mit dem Schutz der Bevölkerung zu bringen.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Genau an dieser Stelle setzt ein Bericht von Amnesty International von Donnerstag an. Die Nichtregierungsorganisation wirft der Ukraine darin vor, durch ihre Militärtaktik unnötig Zivilisten gefährdet zu haben.

Der zentrale Vorwurf: Die Soldaten hätten „wiederholt aus Wohngebieten heraus operiert“. Das erklärte Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International Deutschland, am Donnerstag unter Berufung auf Untersuchungen der Menschenrechtsorganisation im Kriegsgebiet.

Das ukrainische Vorgehen sei „ein Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht“, das nicht durch den "völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg" gerechtfertigt werde. Wenig überraschend fielen die Reaktionen heftig aus. Präsident Wolodymyr Selenskyj entgegnete unter anderem, die Menschenrechtsgruppe versuche, "die Verantwortung vom Angreifer auf das Opfer zu verlagern". Selbst der ukrainische Ableger der Organisation distanzierte sich von der Arbeit der Kollegen aus Großbritannien.

„Das ukrainische Büro war weder an der Vorbereitung noch am Verfassen des Textes der Veröffentlichung beteiligt“, schrieb Oksana Pokalchuk, Direktorin des ukrainischen Amnesty-Büros, auf Facebook. Vertreter ihres Büros hätten alles getan, um die Veröffentlichung zu verhindern. Nach ihrer Meinung – und der ihres Teams – sei der Bericht „einseitig“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Auch von anderen Experten kommt Kritik. „Der Bericht ist sehr undifferenziert verfasst“, erklärt Wolff Heintschel von Heinegg im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Zu den Forschungsschwerpunkten des Professors an der Europa-Universität Viadrina zählt unter anderem das humanitäre Völkerrecht. Darin gebe es kein absolutes Verbot, zivile Gebäude für militärische Zwecke zu nutzen, erklärt er, und verweist dabei auf das erste Zusatzprotokoll von 1977 zur Genfer Konvention.

Klar festgehalten seien hingegen sogenannte „passive Vorsichtsmaßnahmen gegen Angriffe“. „Eine Kriegspartei soll sich unter Einbeziehung humanitärer und militärischer Erwägungen bemühen, die Zivilbevölkerung aus der Umgebung militärischer Ziele zu entfernen“, erklärt von Heinegg die Rechtslage. Auch militärische Ziele in der Nähe dichtbesiedelter Gebiete anzulegen, solle vermieden werden.

Lesen Sie auf Tagesspiegel Plus:

Für die Einordnung der Vorwürfe des Amnesty-Berichts ist vor allem die Formulierung „militärische Erwägung“ relevant. Denn dass die Gefechte sich seit Beginn des Krieges zum Großteil in den ukrainischen Metropolen abspielen, hat seinen Grund.

„Die ukrainische Armee hat aus ihren Fehlern seit der Krim-Annexion gelernt“, analysiert Markus Reisner, Oberst im Österreichischen Bundesheer und Leiter der Entwicklungsabteilung an der Militärakademie Wiener Neustadt. Damals fügte die russische Armee der Ukraine massive Verluste zu, „indem sie sie einfach auf offener Fläche mit ihrer Artillerie beschießen konnte“. Dieses Mal sei das anders.

Die Heeresleitung in Kiew habe die Kämpfe bewusst in den urbanen Raum verlagert, um sich besser verschanzen zu können. „Nur so war die ukrainische Armee überhaupt überlebensfähig“, unterstreicht Reisner die Bedeutung dieser taktischen Entscheidung. Verknüpft man militärische Notwendigkeit also mit der geltenden Völkerrechtslage, wird die Empörung über den Amnesty-Bericht nachvollziehbar.

Für den Kreml ist der Bericht hingegen ein willkommenes Geschenk, meint Markus Reisner. „Solche Meldungen werden für Propagandazwecke und im Ringen um die Informationshoheit in diesem Krieg natürlich ausgenutzt“, ist er sich sicher.

Zur Startseite