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Friedensaktivisten protestieren am Donnerstag vor der US-Botschaft in Berlin gegen das Ende des INF-Vertrags.

© imago images / epd / Christian Ditsch

Am Freitag endet der INF-Vertrag: Europa schlafwandelt bei der Atomwaffenkontrolle

Alle wissen, was nötig wäre, um den Fortschritt an Frieden durch atomare Rüstungskontrolle zu retten. Warum tut es nur keiner? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Wollen wir auf Brandschutzvorkehrungen verzichten und die Feuerwehr verkleinern? Es hat lange keine Großbrände mehr gegeben. Nein, so würde wohl niemand argumentieren. Und wenn, gäbe es lauten Protest.

Am heutigen Tag bricht ein Kernelement aus dem Abrüstungssystem heraus, dem Deutschland und Europa die längste Friedensperiode der letzten Jahrhunderte verdankt: der INF-Vertrag. Doch es bleibt beklemmend still – so, als sei das nicht schlimm. Im INF-Vertrag vereinbarten die USA und Russland die Vernichtung einer ganzen Gattung von Atomwaffen: landgestützte Nuklearflugkörper mittlerer Reichweite.

Dafür hatten vor einer Generation Millionen Menschen demonstriert. Es war die Hochzeit der Friedensbewegung und ein mächtiger Treiber des Aufstiegs der Grünen. Nun wird der Fortschritt zurückgedreht. Deutschland nimmt es achselzuckend hin. Offenbar ist eine neue Generation herangewachsen, die die Gefahr eines Atomkriegs in Europa nicht mehr ernst nimmt.

Rechthaberei, wer schuld sei, hilft nicht

Das ist, so paradox es klingt, ein Erfolg der Abrüstung. Wir Deutschen haben uns so an den Frieden gewöhnt, dass wir ihn für garantiert halten, ohne über seine Basis nachzudenken. Es gibt kaum noch Menschen, die kompetent über die Logik der Abschreckung, die Zahl der Atomwaffen und die Rolle internationaler Rüstungsbegrenzung sprechen können. Auch deshalb gibt es keine breite Debatte über den Rückfall in eine hochgefährliche Ära.

Der INF-Vertrag läuft aus, weil ihn erst die USA und dann Russland gekündigt haben – die USA mit der Begründung, dass Moskau ihn seit Jahren breche. Putin bestreitet das. Die Bundesregierung sieht es wie die USA.

Eine Titan-II-Rakete steht in einem Raketensilo in einem Museum.
Eine Titan-II-Rakete steht in einem Raketensilo in einem Museum.

© dpa

Doch Rechthaberei, wer schuld sei, hilft nicht weiter. Denn es gibt sehr reale Gründe, warum die USA und Russland das Interesse am INF-Vertrag verloren haben. Er bindet nur sie, nicht aber andere Mächte, die Atomsprengköpfe und Mittelstreckenraketen haben oder danach streben: China, Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan. Warum sollen Putin und Trump tatenlos zuschauen, wie andere sich Waffen verschaffen, die ihnen verboten sind, die aber die regionalen militärischen Gewichte verschieben?

Groß- und Mittelmächte müssten Druck ausüben

Alle wissen, was nötig wäre, um den Fortschritt an Frieden durch atomare Rüstungskontrolle zu retten: die Ausweitung der Verträge auf die neuen Atomwaffenstaaten, allen voran China. Und auf andere Waffensysteme. Mittelstreckenraketen kann man heute auch von Schiffen abschießen, nicht nur von Land. Peking zeigt bisher kein Interesse, da mitzumachen. Andere Groß- und Mittelmächte müssten Druck ausüben und die Globalisierung der Rüstungsbegrenzung zu einem Kerninteresse erklären. Gemessen an den Risiken von Atomwaffen müsste ihre globale Begrenzung so prioritär wie Klimapolitik behandelt werden. Zudem läuft in zwei Jahren auch der Start-Vertrag über strategische Atomwaffen aus.

Warum tut die Bundesregierung so wenig? Warum lamentiert sie bestenfalls über die Entwicklung? Allein kann sie wenig in den USA, Russland und China ausrichten. Aber Deutschland sitzt im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und kann dort initiativ werden. Und es kann sich mit Großbritannien und Frankreich zusammentun – wie im Atomstreit mit dem Iran. Nur wenn die drei gemeinsam bei Trump, Putin und Xi auftreten, hat Europa Gewicht. Das müssen sie jetzt aber auch. Sonst entgleitet ihnen die Friedenssicherung. Global und vor der Haustür.

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