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Da waren sie wieder: Zu später Stunde präsentierten Michael Müller, Angela Merkel und Markus Söder (v.l.n.r.) die neuen Beschlüsse.

© Markus Schreiber/Pool via REUTERS

Alltags- und realitätsfern: Die Regierenden sind in einer Parallel-Dimension angelangt

Die Öffnungsfantasien verlaufen konträr zur Inzidenz, das versteht niemand mehr. Vor allem nicht, wenn so etwas nach Mitternacht verkündet wird. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anke Myrrhe

Eine Pressekonferenz, die um kurz vor Mitternacht beginnt. Eine Kanzlerin, ein Berliner Regierender und ein bayerischer Ministerpräsident, die einträchtig verkünden, dass dies ganz bestimmt die beste Lösung für das Land sei. Diesmal aber wirklich!
Ein bisschen öffnen, die Inzidenzgrenze langsam immer weiter nach oben schieben, das hatten die Menschen doch immer so gewollt – oder etwa nicht?

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Es war wieder einer dieser Mittwochabende. Die Menschen in Deutschland haben sich längst daran gewöhnt, dass diese Ministerpräsidentenkonferenzen nun im Monatsrhythmus über ihr Leben bestimmen. Gewöhnt an die folgenden Pressekonferenzen, in denen die Dreierriege aus Kanzleramt, Bayern und Berlin neue Maßnahmen verkündet und erklärt, warum dies geöffnet wird und das noch nicht, warum alle noch ein bisschen weiter durchhalten müssen, und dass die Zeiten nun mal schwierig sind.

Diese Verkündungsrunden vor blauer Kulisse waren einmal Teil des Vorabendprogramms, dann wurden sie zur Abendunterhaltung, am Mittwoch waren sie erstmals Mitternachtssuppe. Auslöffeln müssen sie alle.

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Längst haftet diesen Runden eine Alltags- und Realitätsferne an, als entschwänden sie in den Logiken einer parallelen Dimension. Die drei Pressekonferenz-Protagonist:innen setzen auch in der Nacht von Mittwoch vor laufenden Fernsehkameras die üblichen „Nickeligkeiten“ (O-Ton Müller) zwischen den Ländern fort, vielsagende Blicke flogen von Müller zu Söder und zurück.

Aber Streit? Nein, hier gebe es keinen Streit, alles konstruktiv verhandelt, und das Ergebnis könne sich ja nun wirklich sehen lassen!

Die demonstrative Betonung der Eintracht wirkt umso gespielter, als man die Details der Streitigkeiten tagelang in den Live-Tickern hatte nachlesen können. Wie viel nach draußen dringt, ist immer auch ein Zeichen für den Zustand des Vertrauens in solchen Runden. Nichts kann dort mehr geschützt gesagt werden. Und alle wissen das.

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Nur verstehen tut es schon längst niemand mehr. Wieder einmal laufen die Inzidenzzahlen konträr zur Öffnungsfantasie, die vielleicht ohne die mahnende Merkel und den stänkernden Söder noch liberaler hätte ausfallen können. Und dennoch kann niemand erklären, warum bei einer Inzidenz von über 60 überhaupt Lockerungen beschlossen werden. Die Wahrheit wäre wahrscheinlich: Weil der Lockdown zu light war, weil es so auf Dauer nicht funktioniert, weil das Leben da draußen längst wieder tobt.

[Mehr zum Thema: Rekonstruktion von Merkels Corona-Kehrtwende - „Wildes Gekläffe, vom Kanzleramt bis nach Bayern und zurück“ (T+)]

Nun kann man das natürlich dennoch so beschließen. Man sollte nur nicht so tun, als sei diese Öffnung die logische Folge aus vier Monaten Lockdown. Natürlich sehnen sich die Menschen zurück nach einem normalen Leben. Sie wollen aber vor allem, dass der entsagungsreiche Winter nicht vergebens war.

Seit vier Monaten sind die Restaurants geschlossen, mehr als zwei Monate waren die meisten Kinder nicht in Schule oder Kita. Umfragen zeigen, dass die Pandemiemüdigkeit zunimmt. Und dennoch wissen inzwischen alle (bis auf einige, die es noch besser wissen), dass ein paar unbedachte Tage die Anstrengungen von Wochen zunichte machen können.

[Lesen Sie hier das Interview mit Berlins Regierendem Bürgermeister (T+)]

Wer unplausibel kommuniziert, darf sich nicht wundern, dass das Vertrauen in die Arbeit der Regierung sinkt. Mehrfach hielt Michael Müller am frühen Donnerstag, weit nach Mitternacht, einen Zettel mit bunten Tabellen in die Höhe. Der Stufenplan sei so ausgefeilt, dass er auf ein Din-A4-Blatt passe!

Wie toll wäre es, wenn man diesen Zettel lesen und womöglich verstehen könnte. Man hätte ihn besser vereinfachen und zu einer regulären Zeit an eine Wand projizieren sollen, statt die immer selben Durchhalteparolen zu schmettern. Frontalunterricht funktioniert auch digital nicht, das hätte man wissen können nach einem Jahr Pandemiebeschulung. Und die Ermüdung treibt man den Leuten sicher nicht mit Mitternachtsveranstaltungen aus.

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