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Aktion "Deutschland spricht": Deutschland hat so viel zu besprechen

Dialog und Diskussion zu ermöglichen, das ist das Essenzielle in der Demokratie. Genau das versucht die Aktion "Deutschland spricht". Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Deutschland spricht. Nein, Deutschland spricht nicht. Nicht genügend. Aber es hat doch so viel zu bereden, aktuell und für die Zukunft. Diese Fälle von Antisemitismus, die Hassmails an den jüdischen Gastronomen in Berlin, der Fall Hatice Akyün, der Fall Mesut Özil, der Fall Claudia Roth, ihre Geschichte der Beschimpfungen, weil sie anders denken, Kontroversen auslösen. Das ist nicht nur zum Schlechten: Wo sie möglich sind, sollten Kontroversen ausgehalten werden, mehr noch, sie sollten gestaltet und nicht erlitten werden. Um Willy Brandt zu folgen: Nötig ist gerade jetzt das „große Gespräch der Gesellschaft“.

Das zu ermöglichen, ist das Essenzielle in der Demokratie. Dieses Gespräch schließt den politischen Streit und die Sachauseinandersetzung ausdrücklich mit ein. Es setzt sie sogar voraus, damit in einer möglichst breiten Diskussion an deren Ende ein möglichst breites Maß an Übereinstimmung erzielt werden kann. Und sei es, dass bestimmte Felder der Debatte noch einmal beschritten werden müssen oder dass ein Streit solange offen bleiben muss, wie es keine neue Idee gibt, an der entlang sich der Versuch einer Lösung hangeln kann. Die breite Diskussion wird umso fruchtbarer sein, je mehr Bürger sich daran beteiligen, je mehr mitwirken und durch die Mitwirkung mitentscheiden wollen über das Schicksal unserer Demokratie. Denn seien wir ehrlich mit uns: Es geht angesichts der nur angedeuteten Entwicklungen um nicht weniger.

Das alles wusste so schon Brandt, und zwar schon im September 1973. Das große Gespräch der Gesellschaft kann nun, genau 45 Jahre später, Wirklichkeit werden: durch „Deutschland spricht“. Von Zeit Online angestoßen haben sich mehrere deutsche Medien, darunter auch der Tagesspiegel, zusammengeschlossen, um Menschen verschiedener politischer Ansichten an einen Tisch zu bringen, buchstäblich. Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier werden am 23. September Zehntausende diskutieren, streiten – und zuhören. Von diesem Mittwoch an kann sich jeder bewerben, indem er die folgenden Fragen beantwortet:

„Nie zuvor in der Geschichte war die Dimension der Zukunft so sehr reale Kategorie der Politik wie in der Gegenwart, Überspitzt: der Politiker muss unter Umständen schon heute Antworten auf Fragen finden, die erst morgen gestellt werden“ (Brandt). Wer dieser These folgt, der wird das Gespräch nicht verweigern. Gibt es doch den Volksvertretern, unseren Vertretern als dem Souverän, erst die Möglichkeit, zu verstehen, was passiert – und was passieren muss. Die wahre Wirklichkeit aufzunehmen, ist die wahre Konfrontation. Und uns darum ebenso wie den Politikern aufgetragen, weil jede Form von Demokratiegemeinschaft am besten als Verantwortungsgemeinschaft funktioniert.

Alles das, was gelernt ist in den vergangenen Jahrzehnten, muss in praktisches Handeln überführt werden: in Diskurs. Wie bei „Deutschland spricht“.

Ganz so weit sind wir noch nicht – aber immerhin so weit, Dialog zu organisieren. Zumal in dieser Zeit, in der zynische Kritik an der sogenannten formalen Demokratie deren weitere Schwächung zur Folge haben kann. Die zunehmende Verbreitung von Angstparolen soll ja erkennbar dazu führen, dass die Vernünftigen verstummen. Wer das eine Re-Ideologisierung nennt, kommt einem im Grunde totalitären Treiben auf die Spur. Das Aussprechen dessen, was (gefühlt oder faktisch) ist oder sein soll, kann eine Immunisierung in Gang setzen: gegen die, die mit Vereinfachungen die Demokratie unterlaufen wollen.

Wenn „Deutschland spricht“, dann hilft das dagegen.

Mehr Informationen zu "Deutschland spricht" finden Sie auch hier.

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