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Am 6. Dezember 2018 eröffnete das Musée des civilisations noires („Museum der schwarzen Zivilisationen“) in Dakar.

© AFP/SEYLLOU

"Afrotopia" von Felwine Sarr: Was Europa von Afrika lernen kann

In Afrikas vorkolonialer Bibliothek findet sich uraltes Wissen. Das sollte Europa nutzen, um sich nicht selbst zu zerstören. Eine Kolumne.

Ein bescheidener Mann mit gewählten Worten ist Felwine Sarr, der Wirtschaftsprofessor, Romanautor und Musiker. Zwei Mal hatte ich die Gelegenheit, ein Bühnengespräch zu seinem Buch „Afrotopia“ mit ihm zu führen: Beide Veranstaltungen – in Berlin und Stuttgart – waren restlos ausverkauft. Es meldeten sich Botschafter (Senegal und Frankreich), Kulturaktivisten, Wissenschaftler und Literaturhausbesucher an. Wir staunten über den Andrang. Bekanntheit hat Sarr hierzulande vor allem durch seinen Restitutionsbericht an Emmanuel Macron erlangt, in dem es um die Rückführung von afrikanischen Kulturgütern aus französischen Museen an ihre Ursprungsorte geht. In seinem Essay „Afrotopia“ interessiert er sich weniger für Europa. Er schöpft aus dem „tiefgreifenden Humanismus der afrikanischen Kulturen“, wenn er schreibt: „Die Revolution, die es auf den Weg zu bringen gilt, ist eine spirituelle. Und es scheint uns, dass die Zukunft der Menschheit von ihr abhängt.“

Sarrs Überlegungen bleiben von großem Wert für ein Europa, das sich seit Jahrhunderten damit selbst betrügt, als einzige Region in der Welt universelle Werte etabliert zu haben. Gerade wo es um Universalismus geht, betont Sarr die Bedeutung afrikanischer Traditionen und der „vorkolonialen Bibliothek“, denn hier sei das Wissen der ältesten Gesellschaften in der Menschheitsgeschichte gespeichert. Lange bevor Menschen begannen, andere Regionen der Welt zu bewohnen, haben Gesellschaften in Afrika verschiedene Wege des Zusammenlebens gesucht.

Afrika soll nach Mitteln für "menschliches Abenteuer" suchen

Dieses vielfältige Wissen habe der Kolonialismus versucht zu ersetzen durch ein anderes, singuläres Wissen – Sarr nennt das „epistemische Ungerechtigkeit“. Das traditionelle Wissen habe allerdings nie eliminiert werden können. In dieser vorkolonialen Bibliothek müsse Afrika nach Zwecken und Mitteln für das „menschliche Abenteuer“ suchen. Dort finden sich – Sarr nennt viele Beispiele – ökonomische Strategien, die nicht die Kultur unterordnen, sondern ihr dienen. Potenziale, die ein Wirtschaften nicht gegen die Natur, sondern mit ihr ermöglichen. Systeme, die Effizienz nicht durch die Optimierung der Produktionsbedingungen für materielle Güter erreichen, sondern durch eine Produktion, die die Qualität und Intensität zwischenmenschlicher Beziehungen maximiert.

Nichts von all dem erwähnt der Essay, um europäische Politik zu verändern. Sarr formuliert ein Denken aus Afrika heraus für Afrika. Wobei er „Afrika“ nicht auf den Kontinent beschränkt. Der (nicht afrikanische) Europäer kann aber zuhören und wird, wenn er es schafft, sich einmal zurückzunehmen, viel lernen. Immer mehr Europäer ahnen, was sich Europa selbst angetan hat, als es andere Gesellschaften überfiel und versuchte deren Wissensbestände auszulöschen und zu ersetzen: zum Beispiel die Möglichkeit, aus der Weisheit der ältesten Gesellschaften der Menschheitsgeschichte zu schöpfen.

Heute, wo unsere Art zu wirtschaften die Grundlagen unseres Lebens zerstört und wo ein hierarchisierendes Wertesystem eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen erschwert, scheint nichts dringlicher zu sein. Um sich nicht selbst zu zerstören, braucht auch Europa eine geistige Revolution oder zumindest eine Weiterentwicklung, die ihre Zwecke (zum Beispiel die Menschenrechte) mit ihren Mitteln (die Art des Wirtschaftens und der Politik) in Einklang bringt. Nur dann, wenn Europa sich nicht mehr als Verfasser der Menschheitsgeschichte versteht, sondern als ein Element unter vielen, kommen auch seine eigenen wertvollen Beiträge zu dieser Geschichte zur Geltung.

Deniz Utlu

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