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Russland Afghanistan 1989

© dpa

Afghanistan vor 20 Jahren: Der Krieg hinter dem Flüsschen

Der "Krieg hinter dem Flüsschen" werde nicht lange dauern, hieß es, als die ersten sowjetischen Panzer im Dezember 1979 nach Afghanistan einrückten. Doch es kam völlig anders: Nach einem blutigen Fiasko verließ vor 20 Jahren der letzte Sowjetsoldat den Boden Afghanistans.

„Gefallen bei der Erfüllung seiner internationalistischen Pflicht wird Ihr Sohn anderen stets ein leuchtendes Beispiel sein. Nehmen Sie unser aufrichtiges Beileid ...“ Tatjana Woronenko bricht die Stimme, ihre Hände zittern, als sie das Telegramm des sowjetischen Verteidigungsministeriums vom April 1982 glättet. Die 71-Jährige verwahrt es zusammen mit dem letzten Brief, den ihr Jewgenij schrieb. „Meine liebe Mutti“, steht da. „Unsere Einheit wird in ein paar Tagen verlegt. ... Wir vermuten, es geht in die befreundete DDR. Mach Dir also keine Sorgen.“

„Er war noch nicht einmal neunzehn, als sie ihn 1981 einzogen“, sagt seine Mutter. „Spätestens, als der Zug mit seiner Einheit damals bei Astrachan über die Wolga fuhr, wird er gemerkt haben, dass es nicht nach Deutschland ging, sondern nach Afghanistan.“ Drei Monate später kam die Todesnachricht.

Der „Krieg hinter dem Flüsschen“ werde nicht lange dauern, hieß es, als die ersten sowjetischen Panzer im Dezember 1979 die schwarze Brücke passierten, die sich nahe der usbekischen Grenzstadt Termez über den Amu Darja wölbt. Von „uneigennütziger internationalistischer Hilfe“ für die pro-sowjetische Fraktion, die sich dort seit dem Sturz des Königs 1973 mit maoistischen Gruppen um die Macht in Afghanistan balgte, war die Rede. Sechs Jahre versuchte Moskau, Wüstennomaden für den real existierenden Sozialismus und Nation building zu begeistern – zuerst mit Agitprop, dann mit schwereren Geschützen. Weil der Erfolg gegen null tendierte, befahl Michail Gorbatschow 1986 den etappenweisen Rückzug. Am 15. Februar 1989 rollten die letzten Panzer über die schwarze Brücke nach Hause. Eine Million Afghanen hatten das Abenteuer hinter dem Flüsschen mit ihrem Leben bezahlt. Und 14 000 Sowjetsoldaten. Die meisten blutjung wie Jewgenij.

Den Zinksarg haben sie in Rostow am Don beigesetzt. Dort, wo Jewgenij zur Welt kam und die Kirschen blühen, kaum dass der letzte Schnee getaut ist. Jewgenis Eltern hat es inzwischen ins Moskauer Umland verschlagen. Einmal im Jahr, sagt seine Mutter, bezahle der Staat ihr die Reise zum Grab. Wegen der Krise sei wohl fraglich, ob das auch künftig noch möglich sein werde.

Nicht mal das Geld für eine Gedenkmedaille zum 20. Jahrestag des Abzugs sei da. Wladimir Kostjutschenkos dunkle Augen funkeln. Er kommt gerade aus dem Parlament, wo er das Problem angesprochen hat. Kostjutschenko, der in den sieben Jahren seiner Mission in Afghanistan dreimal mit dem Goldenen Stern eines Helden der Sowjetunion ausgezeichnet wurde, ist Erster Stellvertretender Vorsitzender der Russischen Union der Afghanistan-Veteranen (RSVA). Sie hat im Moskauer Südosten eine Kellerwohnung gemietet und dort auch ein Museum eingerichtet. Die Ausstellungsstücke haben Kostjutschenko und seine Kameraden selbst zusammengetragen: Wrackteile ihrer Maschinen, Stinger-Raketen, mit denen die Mudschaheddin – afghanische Glaubenskämpfer – sie abschossen, und sowjetische Bordwaffen. Dazu mannsgroße Puppen in Fliegerkombination.

Der 53-jährige ehemalige Hubschrauber-Pilot gehörte 1989 zu den Gründervätern der Veteranenorganisation. Sie hat inzwischen Mitgliederzahlen, von denen hiesige Parteien nur träumen können: weit mehr als eine halbe Million. In allen ehemaligen Sowjetrepubliken. „Wir halten zusammen wie ein Wolfsrudel und sind ein Staat im Staate“, sagt Kostjutschenko. Zum postkommunistischen Russland hat er ein kritisches Verhältnis. Viele Veteranen haben bis heute keine Wohnung, ihre Renten sind mager. Der Verband hilft, wo er kann. Mit Erlösen aus eigenen Geschäftsideen und Beraterhonoraren aus den USA. „Unsere Erfahrungen sind dort in letzter Zeit sehr gefragt“, sagt er.

Die Antiterror-Operation, meint er, sei dennoch zum Scheitern verurteilt. Die Amerikaner und ihre Verbündeten würden den Krieg gegen die Taliban vor allem mit Technik führen. „Per Knopfdruck und Mausklick. Weil sie anders als wir damals ihre Soldaten schonen wollen, was durchaus zu begrüßen ist. Dadurch aber gibt es viel mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung. Und aus Befreiern werden dann schnell Besatzer.“ Kostjutschenko sagt es ohne Häme. Denn er hat damals einen ähnlichen Stimmungsumschwung erlebt. „Die Sowjetunion hatte vor dem Einmarsch sehr viel gebaut in Afghanistan und hatte einen Vertrauensbonus. Damit war es aber vorbei, als wir militärisch in die innerafghanischen Auseinandersetzungen eingriffen. Und ähnlich idiotische Befehle bekamen wie heute die Amis.“

Um den Nachschub für die Mudschaheddin zu blockieren, der vor allem über Pakistan abgewickelt wurde, durften Wagen, die von dort kamen, nur eine Piste durch die Registon-Wüste befahren. „Auf jeden, der von der Trasse abkam“, sagt Kostjutschenko, „mussten wir sofort das Feuer eröffnen. Ohne zu kontrollieren, ob die Ladung tatsächlich für die Glaubenskämpfer bestimmt war.“ Oft, sagt er, hätten nur Frauen, Kinder und Greise unter der Plane gehockt. „Die Afghanen hatten daher bald nur noch eines im Kopf: Die Schurawi, die Sowjets, zu töten, wo immer sich Gelegenheit bot.“

1982 absolviert Kostjutschenkos Staffel ein mehrtägiges Training für eine Sonderoperation. Sie sollen ein Lager der Mudschaheddin am Helmand bombardieren. Am jenseitigen Flussufer, das schon zu Iran gehört. „Daraus“, sagt Kostjutschenko, „hätte der Dritte Weltkrieg entstehen können. Denn die Amis hatten Wind bekommen und griffen uns auf dem Rückweg mit Phantomjägern an. Und wir bekamen Befehl zurückzuschießen.“ Dazu kommt Kostjutschenko nicht mehr. Seine Maschine brennt und stürzt wie ein Stein in die Tiefe. Die Besatzung überlebt.

Dennoch: Neunzehn Mann aus einer Staffel sind im Krieg hinter dem Flüsschen gefallen. Ihnen zünden die Überlebenden in ihrem Museum an den Jahrestagen neunzehn Kerzen an. Besser gesagt: achtzehn. Die neunzehnte wolle partout nicht brennen, sagt Kostjutschenko. Für ihn ein klarer Fall: Einer seiner Männer gilt bis heute als vermisst. Die Kerze, meint er, signalisiere, dass er noch lebe. Und irgendwann komme. Vielleicht schon am Sonntag, zum 20. Jahrestag.

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