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Die Jobcenter sind 13 Jahre nach ihrer Einführung noch immer umstritten.

© Patrick Seeger/dpa

Update

Debatte um Grundsicherung: Ist Hartz-IV gescheitert – und was käme danach?

Für Kanzler Schröder war es das größte Projekt, nun steht es zur Disposition. Wie die Reform Deutschland verändert und was sich gebessert hat. Fragen und Antworten.

Mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland sind auf Hartz IV angewiesen, etwa ein Drittel davon Kinder. Seit der Einführung ist die Arbeitsmarktreform umstritten. Während die einen auf das deutsche Jobwunder verweisen, kritisieren andere, dass Hartz IV ein Leben in Armut bedeute und die Betroffenen zu Bittstellern mache.

Warum wurde Hartz IV eingeführt?

Als 2002 der Skandal um gefälschte Vermittlungsstatistiken die Arbeitsämter erschütterte, geriet der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) unter Druck. Im Wahljahr lahmte die Konjunktur, die Zahl der Arbeitslosen stieg auf vier Millionen. Schröder engagierte VW-Manager Peter Hartz, der mit einer Expertenkommission den Entwurf für eine Reform des Arbeitsmarktes lieferte und die Halbierung der Arbeitslosigkeit versprach.

Nach seiner knappen Wiederwahl stellte Schröder 2003 die Agenda 2010 vor, die auf Kürzungen von staatlichen Leistungen und mehr Eigenverantwortung setzte. Ein wichtiger Baustein war das „vierte Gesetz zur Modernisierung des Arbeitsmarktes“, das fortan unter dem Namen Hartz IV firmierte. In Kraft trat es erst am 1. Januar 2005, weil Rot-Grün auf die Zustimmung des Bundesrats angewiesen war, der damals von der Union dominiert wurde.

Was hat sich mit der Arbeitsmarktreform konkret geändert?

Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt – auf dem niedrigeren Niveau der Sozialhilfe. Anfang 2005 lag der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen bei 345 Euro im Monat, heute sind es 416 Euro. Mit Hartz IV hielt der Grundsatz des Forderns und Förderns Einzug in die Arbeitsmarktpolitik.

Wer Grundsicherung beantragt, muss bereit sein, einen Job anzunehmen, der unter der bisherigen Qualifikation liegt oder schlechter bezahlt ist. Wer eine „zumutbare“ Arbeit ablehnt oder Termine beim Jobcenter versäumt, den erwarten Sanktionen. Hartz-IV-Bezieher müssen Einkommen und Vermögen offenlegen. Anspruch auf Grundsicherung hat nur, wer eigenes Vermögen bis auf einen Freibetrag aufbraucht, auch das Einkommen des Partners wird angerechnet.

Wie hat Hartz IV das Land verändert?

Hartz IV polarisierte von Anfang an. Aus Protest gegen die Arbeitsmarktreform wurden im Osten die Montagsdemos wiederbelebt, während im Westen enttäuschte Gewerkschafter und Sozialdemokraten die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) gründeten. Dank Unterstützung durch Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine wurde so der Weg für die Linkspartei bereitet, die aus der WASG und der PDS hervorging.

Hartz IV sorgte für Verunsicherung, bis in die Mittelschicht hinein. Denn wer arbeitslos wurde, dem drohte schneller der Abstieg in Hartz IV. Mit der Arbeitsmarktreform wurde schließlich auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verkürzt, das aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung finanziert wird und sich am letzten Verdienst orientiert.

Brachte die Reform denn auch Verbesserungen?

Für einen Teil der Empfänger schon. Mit Hartz IV wurde zumindest grundsätzlich das Recht auf individuelle Förderung und Vermittlung in Arbeit eingeführt, auch wenn das in der Praxis nicht immer eingelöst wird. Die alte Sozialhilfe war auch deswegen in die Kritik geraten, weil sich keiner richtig bemühte, diese Menschen in Arbeit zu bringen.

Viele frühere Sozialhilfeempfänger haben heute Anspruch auf Hartz IV, weil der Kreis der Berechtigten weit gefasst wurde. Als erwerbsfähig gilt, wer mindestens drei Stunden am Tag arbeiten kann. In anderen europäischen Ländern werden größere Personengruppen als nicht erwerbsfähig eingestuft.

Ist die Arbeitslosigkeit durch Hartz IV zurückgegangen?

Als Hartz IV eingeführt wurde, hatte die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland den Rekordwert von 4,86 Millionen erreicht. Seitdem hat sich die Arbeitslosigkeit nahezu halbiert: 2017 waren im Jahresdurchschnitt noch 2,53 Millionen Menschen ohne Job. Auch die Zahl der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger ging im gleichen Zeitraum zurück, von 2,8 Millionen auf 1,7 Millionen.

Für den positiven Trend am Arbeitsmarkt machen Forscher die gute Konjunktur verantwortlich, aber auch die jahrelange Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Welchen Anteil Hartz IV an der Entwicklung hat, ist umstritten. Klar ist: Die Arbeitsmarktreform hat dazu geführt, dass es bei Arbeitslosen eine höhere Bereitschaft gibt, Zugeständnisse zu machen.

Welche Chancen hat man, aus Hartz IV rauszukommen?

Das ist sehr unterschiedlich. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat die Werdegänge von Hartz-IV-Empfängern über einen längeren Zeitraum untersucht. Von den 6,2 Millionen Leistungsbeziehern bei der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 waren rund eine Million Menschen bis 2014 ununterbrochen auf Grundsicherung angewiesen. Nur einem guten Viertel gelang es, diese vergleichsweise schnell zu verlassen. Allgemein gilt: Wer keinen Schulabschluss hat oder älter ist, hat größere Probleme. Manche Menschen sind auch deswegen auf Hartz IV angewiesen, weil sie mit ihrem regulären Job nicht genug verdienen, um sich und ihre Familie zu ernähren.

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen unter den Hartz-IV-Beziehern, also der Menschen, die seit mehr als einem Jahr vergeblich auf Jobsuche sind, liegt aktuell laut Bundesagentur für Arbeit bei 800.000. Bis zu 200.000 von ihnen gelten als praktisch nicht vermittelbar. Für diese Personengruppe will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) einen staatlich geförderten sozialen Arbeitsmarkt aufbauen.

Reicht Hartz IV zum Leben?

Seit der CDU-Politiker Jens Spahn mit der Aussage provozierte, mit Hartz IV habe jeder, was er zum Leben brauche, wird wieder über die Höhe der Leistungen gestritten. Ein Single erhält neben dem Regelsatz von 416 Euro die Kosten für Miete und Heizung erstattet – mit der Einschränkung, dass diese nur in „angemessener“ Höhe bezahlt werden. Kritiker bemängeln, dass die Regelsätze künstlich kleingerechnet würden. Der ehemalige Generalsekretär des Caritas-Verbandes, Georg Cremer, hält eine Anhebung um 80 Euro im Monat für notwendig.

Warum fordern Kritiker einen Systemwechsel?

Die Zeit sei über Hartz IV hinweggegangen, sagt Grünen-Chef Robert Habeck. Er verweist dabei auch auf den Wandel in der Arbeitswelt, nicht zuletzt ausgelöst durch Digitalisierung und Automatisierung. Seine Partei setzt sich für eine sanktionsfreie Grundsicherung mit höheren Leistungen ein. Auch die Linkspartei will Hartz IV abschaffen. Aber auch in der SPD wird kontrovers diskutiert. So fordert Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller ein „solidarisches Grundeinkommen“ mit kommunalen Jobangeboten.

Damit meint er Tätigkeiten als Schulhausmeister, Schulsekretärinnen, Nachmittagsbetreuer für Kinder und Jugendliche. Im stressigen Schulalltag brauche man nicht nur Fachpersonal, sondern auch solche Unterstützer. Helfende Arbeiten dieser Art könnten auch beim BER helfen. "Da gibt es ja noch viel zu tun", sagte er am Dienstagabend beim fünften Berliner Rathaus-Dialog - und lachte.

Anders als bei der derzeitigen Politik der Jobcenter sollten Langzeitarbeitslose bei seinem Konzept nicht mehr "von Maßnahme zu Maßnahme" geschickt werden. Anders als beim früheren öffentlichen Beschäftigungssektor (ÖBS) in Berlin sollte es sich um reale und sinnvolle Jobs handeln. "Wir wollen nicht wieder irgendwelche Aufgaben erfinden, um Menschen zu beschäftigen", sagte er. Und man wolle auch nicht wieder etwas beschließen, das gesellschaftlich nicht akzeptiert sei. Mit Betroffenen selbst gesprochen habe er allerdings noch nicht.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat errechnet: Im Ergebnis würde ein großer Teil der Lohn- und Lohnnebenkosten über den Wegfall von Hartz IV, der Verwaltungskosten und der zusätzlichen Einzahlungen in die Sozialkassen finanziert werden können. Bei 150.000 Menschen prognostizierte DIW-Präsident Marcel Fratzscher eine jährliche Summe von 750 Millionen Euro - was angesichts des Milliardenüberschusses der Bundesagentur für Arbeit leistbar sei. Den Verwaltungsaufwand für das solidarische Grundeinkommen schätzt er als "deutlich geringer ein, als das, was jetzt der Hartz-IV-Apparat kostet".

Der Verein "Mein Grundeinkommen" bezeichnet die Idee von Michael Müller als einen "Etikettenschwindel". "Er nennt es solidarisches Grundeinkommen und meint die pauschale Bezahlung von erwerbslosen Ehrenamtlern”, sagt Michael Bohmeyer, Gründer des gemeinnützigen Start-ups. Ein Grundeinkommen müsse aus seiner Sicht existenzsichernd, ohne Bedarfsprüfung und ohne Gegenleistung zur Verfügung gestellt werden. Die echte Erneuerung liege in einer Bedingungslosigkeit.

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