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Die nationale Idee spielte auch in der Revolution von 1989 eine große Rolle.

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9. November: Freiheit ist wunderbar – und verwundbar

Wir erleben heute eine anti-liberale bis reaktionäre Bewegung. Sie hat Wurzeln sowohl im Jahr 1918 als auch 1989. Ein Gastbeitrag.

Es gibt keinen Tag, an dem Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte sich so verbinden wie am 9. November. An diesem Datum wurde die Weimarer Republik ausgerufen, nach dem gescheiterten Anlauf von 1848 die erste Demokratie auf deutschem Boden. Exakt 20 Jahre später ging ein organisierter Mob auf jüdische Gotteshäuser, Geschäfte und Privathäuser los, ein Vorgriff auf die bevorstehende Vernichtung der europäischen Judenheit. Dagegen fällt auf den 9. November 1989 ein helles Licht. An jenem denkwürdigen Tag öffnete sich der „Eiserne Vorhang“, der Deutschland und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg teilte.

Der 100. Jahrestag der Ausrufung der ersten deutschen Demokratie, der 80. Jahrestag der Pogromnacht und der Jahrestag der Maueröffnung fallen in eine seltsam aufgeladene Stimmung.

Der Liberalismus – die Idee und Praxis individueller Freiheit und Gleichheit, Weltoffenheit und gesellschaftlicher Vielfalt – wird heute weltweit infrage gestellt. Er wird angefochten von Putins Russland und einer selbstbewusst ausgreifenden chinesischen Führung, von Donald Trump im Zentrum der amerikanischen Demokratie, in Polen und Ungarn, in Italien und Brasilien, die Liste lässt sich fortsetzen. Nach den Jahren der Ausbreitung des Liberalismus seit 1989 befinden wir uns heute in einer Phase der Reaktion. Auch in Deutschland gibt es zunehmenden Gegenwind bis in die Mitte der Gesellschaft.

Die Demokratieausrufungen wurden gefeiert – anfangs

Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, drängen sich Parallelen zur antiliberalen Revolte gegen die Weimarer Republik auf, die dem Nationalsozialismus den Weg bahnte. Das Gedenken an die Geburtsstunde der ersten deutschen Demokratie wird vom Wissen um ihr Scheitern getrübt. Auch der 9. November 1989, für die allermeisten Zeitzeugen ein Tag der Freude, löst heute eher nachdenkliche Empfindungen aus. Wie konnte es dazu kommen, dass der große Aufbruch von 1989 in chronischen Unmut mündete und die nationalkonservative bis rechtsextreme Gegenbewegung von heute ihre Hochburgen vor allem in Ostdeutschland hat?

Der 9. November erscheint heute mehr denn je als ein zwiespältiges Datum. Er steht für demokratische Revolution und antidemokratische Reaktion, für Befreiung und Hadern mit der Freiheit, für Liberalismus und Antiliberalismus. Das reaktionäre, antidemokratische Gedankengut der konservativen Eliten von Weimar lebt wieder auf. In Ostdeutschland vereinigt es sich mit einem autoritären Denken, das durch die DDR geprägt wurde. Der heutige Antiliberalismus zieht seine Kraft aus der Reaktion auf die Weimarer Republik ebenso wie aus der Reaktion auf den 9. November 1989.

Die Weimarer Republik war von Anfang an heftig umkämpft, von links wie von rechts. Es war tragisch, dass eine Lichtgestalt wie Rosa Luxemburg, die noch kurz zuvor hellsichtig vor einer Diktatur der bolschewistischen Führer in Russland gewarnt hatte, 1918 gegen die Errichtung einer „bürgerlichen Scheindemokratie“ und die Sozialdemokraten als Hilfstruppe der Reaktion wütete. Das Dogma, dass es nur im Sozialismus „wahre Demokratie“ geben könne, vergiftete das Verhältnis der radikalen Linken zur „bürgerlichen Demokratie“ auf Jahrzehnte hinaus.

Große Teile der alten Eliten in Militär und Justiz, im Beamtenapparat und der Wirtschaft lehnten die Weimarer Republik ab. Sie war von Anfang an ein ungeliebtes Kind, belastet mit der Bürde des Versailler Vertrags, ohne Rückhalt in weiten Teilen der Gesellschaft. Ostelbische Junker lehnten sie ebenso ab wie die Großindustrie und ein Großteil der ehemaligen Frontoffiziere, die die „republikanischen Umtriebe“ für die Kriegsniederlage verantwortlich machten.

Auch völkischer Antisemitismus und der Hass auf die „Weimarer Judenrepublik“ hatten lange vor Hitlers Aufstieg zur Macht Hochkonjunktur. Der 9. November 1938 war kein Blitz aus heiterem Himmel. Eines der stärksten Motive des Antijudaismus war und ist die Gleichsetzung des Judentums mit kapitalistischer Geldwirtschaft und der „Zersetzung“ nationaler Gemeinschaft.

Die Rolle des Nationalen in der Revolution von 1989 wird unterschätzt

Die nationale Idee spielte auch in der Revolution von 1989 eine größere Rolle, als bisher gesehen wurde. Der demokratische Aufbruch im Osten mündete in eine Bewegung für die Wiedervereinigung. Die Vorbehalte gegenüber einer bloßen Auflösung der DDR in die Bundesrepublik wurden durch den Druck der Straße weggefegt. Die Botschaft der Demonstranten im Osten wandelte sich vom trotzig-selbstbewussten „Wir sind das Volk“ zum patriotischen „Wir sind ein Volk“. Es ging um Deutschland. Wer das übersieht, versteht die Popularität der AfD im Osten nicht.

Mit der Wende prallten zwei verschiedene Vorstellungswelten aufeinander. 1989 gehörte es im Westen zum guten Ton, post-national und multikulturell eingestellt zu sein. Im Osten hingegen schlummerte ein restauratives Deutschlandbild, das sich unter der Oberfläche des DDR-Sozialismus erhalten hatte. Es ging um eine ethnisch und kulturell verstandene nationale Identität.

In der alten Bundesrepublik wurde die konservativ-autoritäre Tradition durch einen Prozess der Verwestlichung aufgebrochen. Popkultur und antiautoritäre Studentenbewegung, Bürgerinitiativen und Frauenemanzipation haben die Republik verändert. In Ostdeutschland wurde die nationalsozialistische Diktatur durch einen sozialistischen Obrigkeitsstaat abgelöst. Nonkonformistisches Verhalten und freies Denken wurden allenfalls in Nischen toleriert.

Die kulturelle und soziale Ungleichzeitigkeit führte nach 1989 zu Reibungen und Enttäuschungen, die bis heute fortwirken, verstärkt durch den Kollaps der DDR-Wirtschaft, der Hunderttausende ins soziale Abseits schleuderte, die Abwertung der bisherigen Funktionseliten und die Übernahme der Führungspositionen durch Westler. Bis heute hält nur eine Minderheit der Ostdeutschen die bundesdeutsche Demokratie für die beste Staatsform.

Heute finden sich gerade Ostdeutsche in den Traditionen der „konservativen Revolution“ aus der Weimarer Republik wieder. Es handelt sich um eine Wiedervereinigung einer nationalistischen Vorstellung von Deutschland, die im Autoritarismus Ostdeutschlands subkutan überlebt hat, mit der Erneuerung reaktionären Denkens der Weimarer Zeit durch westliche Rechte.

Man muss diese langen Linien der Opposition gegen die liberale Moderne kennen, um die heutige „antiliberale Konterrevolution“ (so der britische Historiker Timothy Garton Ash) besser verstehen und bekämpfen zu können. Es ist augenfällig, dass die Moderne von ihren frühen Anfängen an geistige und politische Gegenbewegungen hervorbringt. Sie setzen an ihren Brüchen und Zumutungen an.

Das Versprechen auf Wohlstand muss erneuert werden

Freiheit ist wunderbar und anstrengend zugleich. Wer selbstbestimmt leben will, muss auch Verantwortung für Irrtümer und Fehlentscheidungen tragen. Das Beharren auf individueller Freiheit kann einsam machen. Gerade in Zeiten stürmischer Veränderungen, in denen alte berufliche und kulturelle Sicherheiten dahinschmelzen, wächst das Bedürfnis nach solidarischer Gemeinschaft. Das ist der Resonanzboden für „starke Männer“ (oder Frauen) und für den Rückzug in die nationale Wagenburg, die Schutz vor den Zumutungen der Globalisierung verspricht. Die liberale Demokratie wird nur dann wieder die Oberhand gewinnen, wenn sie Freiheit und Sicherheit, Vielfalt und Gemeinsamkeit unter einen Hut bringt.

Für Panik besteht keinen Anlass. Die demokratischen Institutionen sind heute stärker, die freiheitliche Demokratie tiefer in unserer Gesellschaft verankert als je zuvor in der deutschen Geschichte. Aber das ist kein Ruhekissen. Die Zukunft der offenen Gesellschaft wird sich daran entscheiden, ob wir die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen, vom Klimawandel bis zur digitalen Revolution. Nicht zuletzt geht es darum, das Versprechen auf sozialen Aufstieg und Wohlstand für alle zu erneuern. Die liberale Demokratie ist keine Domäne der Reichen und Erfolgreichen. Ihr Ziel ist das größte Glück der größten Zahl. Daran muss man heute wieder erinnern.

- Ralf Fücks war Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit einem Jahr leitet er das neue „Zentrum Liberale Moderne“ in Berlin, eine überparteiliche Denkwerkstatt. Zu ihren Vorhaben gehört die Auseinandersetzung mit den antiliberalen Vordenkern von den 20er Jahren bis heute. Das Projekt „Die liberale Demokratie und ihre Gegner“ wird am 6. Dezember in Berlin vorgestellt. Informationen unter www.libmod.de.

Ralf Fücks

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