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Die Außenminister des Deutschen Reiches, Joachim von Ribbentrop (l), und der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow (vorn) unterzeichnen in Moskau den deutsch-russischen Nichtangriffspakt.

© picture-alliance/ dpa

80 Jahre Hitler-Stalin-Pakt: Das Gedenken tut weh – das muss es auch

Nationalsozialismus und Stalinismus waren die prägenden europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Was war, muss ans Licht. Ein Kommentar.

Nie wieder! In diesen beiden Worten drückt sich ein moralischer Imperativ aus. Er resultiert aus der Zeit der Massen- und Völkermorde, als Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Widerständler, Sozialdemokraten und Kommunisten ermordet worden waren. Vor knapp 80 Jahren hatte das nationalsozialistisch regierte Deutschland einen Aggressionskrieg begonnen, der mit dem Tod vieler Millionen Menschen endete. Die meisten Opfer hatte die Sowjetunion zu beklagen.

Doch der 1. September 1939, der Tag des Überfalls der Wehrmacht auf Polen, wäre ohne den 23. August 1939 nicht möglich gewesen. An diesem Tag, heute vor 80 Jahren, unterzeichneten die Außenminister des „Dritten Reiches“ und der Sowjetunion, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, einen Nichtangriffsvertrag, den Hitler-Stalin-Pakt. In einem geheimen Zusatzprotokoll einigten sich beide Pakt-Parteien auf eine Teilung Polens. Außerdem dufte Stalin auf Finnland, Estland und Lettland zugreifen. So kam es denn auch.

Gut zwei Wochen nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen vom Westen her drang die Rote Armee vom Osten her in das Land mit der größten jüdischen Bevölkerung Europas ein. In der Mitte trafen sich die Verbündeten zu einer gemeinsamen Siegesparade.

Darf an die Kooperation zweier totalitärer Systeme erinnert werden?

Von September 1939 bis zum Juni 1941, als Deutschland trotz des Hitler-Stalin-Paktes die Sowjetunion angriff, waren rund 200.000 polnische Zivilisten ermordet worden. In der offiziellen sowjetisch-russischen Geschichtsschreibung beginnt der „Große Vaterländische Krieg“ erst mit dem „Unternehmen Barbarossa“ am 22. Juni 1941.

Darf an diese Kooperation zweier totalitärer Systeme erinnert werden? Schon die Frage zu stellen, mutet seltsam defensiv an. Was heißt „darf“? Muss man nicht daran erinnern? „Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunden offen“, hat Papst Franziskus gesagt, als er über den Völkermord an den Armeniern sprach.

[Mehr zum Thema: 80 Jahre Hitler-Stalin-Pakt – Die Sowjetunion hatte die Wahl und entschied sich für Hitler]

Historische Wahrheiten können schmerzen. Die eigene Nation will möglichst bruchlos und widerspruchsfrei gewürdigt werden. Das zeigen erboste Türken, wenn sie auf die Verbrechen an den Armeniern angesprochen werden; das zeigen Chinesen, wenn sie Mao Zedongs „Große Proletarische Kulturrevolution“ zwar bewusst unkonkret als „Katastrophe“ bezeichnen, dem Parteigründer selbst aber ein großes Mao-Mausoleum im Zentrum Pekings errichten.

Und das zeigen nicht zuletzt Russen, wenn sie mit Gulag, Holodomor (Stalins Mord durch Hunger an rund drei Millionen Ukrainern) oder dem Leiden der Krim-Tataren konfrontiert werden. Stalin hatte Hitler besiegt, die „Rote Armee“ hatte Europa vom Faschismus befreit. Allein das soll zählen.

Der Tag soll unparteiisch und in Würde begangen werden

Doch wo in einem gesamteuropäischen Gedenken finden die Menschen einen Platz, die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft wurden? Die Antwort darauf gab im April 2009 das Europäische Parlament. Mit großer Mehrheit erklärte es den 23. August zum „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“. In der Pressemitteilung dazu heißt es: „Die Erinnerung an die tragische Vergangenheit Europas muss wachgehalten werden, um die Opfer zu ehren, die Täter zu verurteilen und die Fundamente für eine Aussöhnung auf der Grundlage von Wahrheit und Erinnerung zu legen.“ Der Tag solle unparteiisch und in Würde begangen werden.

Stellt ein solcher Gedenktag die Singularität des Holocaust in Frage? Nein. Er verdrängt nicht den 27. Januar als Internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust, sondern er ergänzt ihn. Macht der Gedenktag die Sowjetunion und das „Dritte Reich“ gleich verantwortlich für die Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg begangen wurden? Nein. Er erinnert lediglich an eine zeitlich begrenzte Kooperation. An jedem 8. und 9. Mai wird der Sieg über den Faschismus gefeiert und der Opfer gedacht, die die Sowjetunion und die drei Westalliierten im Zweiten Weltkrieg zu erleiden hatten.

Nationalsozialismus und Stalinismus waren die prägenden europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ein gesamteuropäisches Gedächtnis muss alle Opfer umfassen. Der Imperativ des „Nie wieder!“ bezieht sich zwar in erster Linie auf Verbrechen. Er umfasst aber ebenso die Erinnerung an Verbrechen. „Nie wieder!“ heißt eben auch nie wieder wegschauen, verschweigen, verdrängen, ignorieren. Was war, muss ans Licht. Ein schonendes Gedenken ist ein Widerspruch in sich.

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