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Spärlich besetzte "Vollversammlung" im Hauptquartier der Vereinten Nationen. Das Wesentliche beschränkt sich 2020 auf die Videowand.

© dpa

75 Jahre Vereinte Nationen: Leere, Lügen und Videos

Ein Dialog findet nicht statt. Wie Corona die UN-Vollversammlung verändert: Statt Bühne der Weltpolitik lauter Monologe an das eigene Volk. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Im Jubiläumsjahr ist alles anders. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen ist normalerweise eine Bühne der Weltpolitik. Hinter den Kulissen setzen sich selbst verfeindete Staaten zusammen. Und wer gerade noch persönlich miteinander sprach, hält vor der Kamera die Zunge etwas mehr im Zaum als sonst.

Wenige Wochen vor dem 75. Geburtstag Ende Oktober hat Corona die UN zu einer Bühne der jeweiligen Innenpolitiken gemacht. Präsidenten und Regierungschefs bleiben zuhause und wenden sich per aufgezeichnetem Video an – ja, an wen eigentlich?

Der Saal in New York ist fast leer. Was Donald Trump, Xi Jinping, Wladimir Putin, Angela Merkel sagen, klingt eher nach lupenreiner Innenpolitik und weniger nach einer Botschaft an die restliche Welt. Die Warnung des Generalsekretärs Antonio Guterres vor einem neuen Kalten Krieg entfaltet in dieser Dialoglosigkeit umso mehr Brisanz.

Trump und Xi werfen sich die Verbreitung von Viren vor

Trumps Video klang wie ein Wahlkampfauftritt vor Fans, ohne Maske. China sei Schuld, dass aus Corona eine Pandemie wurde. Das „China Virus“ habe die übrige Welt krank gemacht. Er hingegen habe mehr Ressourcen für den Kampf gegen Corona mobilisiert als die USA je zuvor seit dem Weltkrieg gegen eine Bedrohung.

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Xi lügt genauso dreist zurück. Trump verbreite "politische Viren". China wolle Multilateralismus und habe bei Corona von Beginn an die internationale Kooperation gesucht. Wer soll das glauben? Peking übte Druck auf die EU und die Weltgesundheitsorganisation aus, damit die sein Corona-Missmanagement verschweigen; es bedroht Nachbarn militärisch und ignoriert Entscheidungen des Internationalen Schiedsgerichts in Den Haag zum Seerecht im Chinesischen Meer; es verweigert seinen Anteil an einer verantwortungsvollen Klimapolitik, ist seit Jahren der größte Klimasünder und will die Verschmutzung noch viele Jahre ungebremst fortsetzen. Peking nutzt freien Marktzugang im Westen, verweigert ihn aber westlichen Unternehmen in China. Xis Multilateralismus ist ein Lippenbekenntnis für die chinesische Öffentlichkeit. In den UN-Institutionen ist davon wenig zu spüren.

Putin reklamiert Führungsrolle, Merkel warnt die Deutschen

In Putins Video ist Russland allen anderen bei der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs so weit voraus wie einst bei den „Sputnik“-Satelliten. Dass Moskau eine international vorgeschriebene Prüfphase übersprungen hat, lässt er beiseite. Vorschläge zur Beilegung der Konflikte in Belarus, der Ukraine, Syrien, Libyen sucht man vergebens.

Merkel stimmt die Deutschen in ihrer Botschaft darauf ein, dass die Konflikte zunehmen und die Kompromissbereitschaft international abnimmt. Die Großmächte verfolgten ihre nationalen Interessen und blockierten allzu oft die UN.

Was bleibt? Die Hoffnung, dass ein Corona-Impfstoff vor der nächsten Vollversammlung im September 2021 zur Verfügung steht. Und die UN wieder zu einer Bühne werden, wo Weltpolitik gemacht werden kann. Im Dialog.

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