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Der Alte. Konrad Adenauer (Mitte) mit Friedrich Holzapfel und Jakob Kaiser (rechts) auf dem ersten Bundesparteitag in Goslar – fünf Jahre nach Gründung der CDU.

© dpa

75 Jahre CDU: Abschied vom "wahren christlichen Sozialismus"

Seit 75 Jahren verändern sich die Konservativen. Aber was die CDU-Gründer einst planten, könnte heute zum Parteiausschluss führen. Erinnerungen an die Anfänge.

Von Robert Birnbaum

Sie müssten sich wahrscheinlich heute selbst aus der Partei ausschließen. Einen „wahren christlichen Sozialismus“ wollten sie errichten, die „Vorherrschaft des Großkapitals“ brechen. Post und Bahn, Kohle und Strom in Staatshand – manches, was die Gründungsväter der CDU aufschrieben, würde ihnen 75 Jahre später zumindest schräge Blicke eintragen.

Doch die Verfasser der „Kölner Leitsätze“ vom 17. Juni 1945 hatten bei allem Idealismus vorgebaut. „Vorläufiger Entwurf zu einem Programm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands“, steht auf dem Deckblatt der vier Schreibmaschinenseiten. In dem Provisorium steckt das Erfolgsrezept der Partei, die mit wenigen Unterbrechungen die Republik regiert. In Fragen der Programmatik lassen Christdemokraten bis heute mit sich reden.

Zur Gründerzeit blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Die Partei war ein Newcomer in der politischen Trümmerlandschaft. Sie hatte keine Vorläufer und wollte keine: Nicht die Vaterlandsparteien der ersten Republik, nicht die konfessionellen Bekenntnisparteien. Viele ihrer prägenden Figuren standen in der NS-Zeit dem kirchlichen und bürgerlichen Widerstand nahe. Mancher wie Andreas Hermes, der in Berlin die CDU gründete, war nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Alle prägte die Erfahrung, dass die Zersplitterung in Partikularinteressen den Aufstieg Hitlers begünstigt hatte. Das sollte nicht wieder passieren: „Ein Ruf zur Sammlung des deutschen Volkes“ steht über den Leitsätzen, als „Ruf zu einer großen Partei“ versteht sich im Jahr darauf der Berliner Gründungsaufruf. Im Pathos des Neuanfangs schimmert die spätere Volkspartei durch.

Sie wollten sich nicht als Vertreter einzelner Gruppen definieren

Die 20 Kölner Leitsätze lesen sich wie ein Entwurf zum Grundgesetz: Würde des Einzelnen, Meinungsfreiheit, Koalitions- und Versammlungsfreiheit, Rechtsstaat, Sozialstaat. Heute klingt das selbstverständlich. 1945 war es nötig, um den Unterschied zwischen demokratischer Sammlungsbewegung und NS-Herdenideologie herauszustellen. Aber in dem Papier steckt eben zugleich der Versuch, sich nicht als Vertreter einzelner Gruppen zu definieren: Wer sammeln will, braucht ein breites Dach.

Dies umso mehr, als die CDU auch organisatorisch eine Sammlungsbewegung war, an vielen Orten praktisch parallel gegründet. Bis zum ersten Bundesparteitag in Goslar dauerte es fünf Jahre. Zentralismus, befanden schon die Kölner, sei ohnehin als „undeutsch“ abzulehnen.

Wirtschaftsflügel im Süden, Sozialflügel im Rheinischen

Ihr heimlicher Anführer – Konrad Adenauer durfte nicht offen parteipolitisch agieren, solange er Oberbürgermeister war – interpretierte den Satz dann recht eigenwillig. Aber obwohl „der Alte“ für sich die Kanzlerpartei erfand mit Geschlossenheit als einem Wert an sich, haben die Landesverbände ihre starke Stellung behauptet. Selbst bei den lange Zeit prägenden Flügelkämpfen war oft die Frage, ob es nicht in Wahrheit um regionalen Einfluss ging: Der Wirtschaftsflügel saß im Süden, die Sozialausschüssler im Rheinischen.

Corona macht dem geplanten Fest zum Jubiläum einen Strich durch die Rechnung. Jetzt soll im Dezember beim Parteitag gefeiert werden, mit neuem Grundsatzprogramm und neuem Chef. Um den Chef wird es eine Schlacht geben. Um das Programm absehbar nicht. Zwar ist der Trend zur Re-Ideologisierung auch an der CDU nicht vorbeigegangen. Es fällt auch ihr schwerer, noch alle Spezialinteressen und Lebensentwürfe zusammenzubinden, wenn Spezialparteien zur Konkurrenz werden und der ruhige volksparteiliche Grundton die Aufregung des Augenblicks nicht trifft.

Die Unschärfe der CDU hat nicht Angela Merkel erfunden

Auch der Verlust der einen großen Eindeutigkeit, die der Systemgegner im Osten lange bot, hat Phantomschmerz hinterlassen. Aber wer Rückkehr zu einem „Markenkern“ einfordert, verbirgt dahinter doch meist nur ein taktisches Manöver.

Dieser Kern bestand und besteht aus einer vage definierten Haltung zur Welt plus der Überzeugung, geborene Regierungspartei zu sein. Das breite Dach der CDU war ansonsten immer eine Schiebekonstruktion, anzupassen an die Bedürfnisse der jeweiligen Koalition und die gesellschaftlichen Großströmungen der Zeit. Diese Unschärfe der CDU hat nicht Angela Merkel erfunden. Auch nicht Helmut Kohl, der Rebell aus der Pfalz, der Heiner Geißler und Norbert Blüm und Rita Süssmuth freie Hand ließ und erst wankte, als er den Öko-Trend übersah. Ludwig Erhard litt darunter – man baute ihm erst posthum Denkmäler, weil seine Idee der sozialen Marktwirtschaft den rheinischen wie den schwäbischen Korporatismus störte.

Aber es ging schon mit Adenauer los. Kurz nach den „Kölner Leitsätzen“ witterte der Alte den Brandgeruch des Kalten Krieges. Der „wahre christliche Sozialismus“ verschwand aus dem Programm und kehrte von da an als Gespenst noch auf Kohls Wahlplakaten wieder. Mit Programmatik hatte das wenig zu tun, dafür mit kühlem Blick auf die Realität – und mit Mathematik. Mit dem S-Wort gewinne die CDU einen Wähler, verliere aber zehn, rechnete Adenauer vor. Er wusste, niemand würde ihm deswegen mit empörten Grundsatzdebatten kommen.

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