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Eine Zeremonie anlässlich des Gedenktags.

© AFP

70 Jahre nach dem Aufstand: Warschau und der Versuch der Selbstbefreiung

Vor 70 Jahren begann der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzungstruppen. Das Ereignis wird in Polen äußerst unterschiedlich bewertet. Die kritischen Stimmen aber nehmen zu.

Stanislaw Likiernik hält nicht mit Kritik zurück. "Eine Tragödie und eine Katastrophe" nennt der polnische Kriegsveteran 70 Jahre danach den Warschauer Aufstand. Zwei Monate lang hatte der damals 21-Jährige für die Befreiung der polnischen Hauptstadt gekämpft. Bis zu 200.000 vor alle zivile Opfer forderte das letzte verzweifelte Aufbegehren der Polen, denn Hitler ließ mit äußerster Brutalität zurückschlagen. Befehl sei eben Befehl gewesen, über den Sinn des Unterfangens habe man damals in den Rängen der gewöhnlichen Kämpfer nicht diskutiert, erzählt der seit gut 50 Jahren in Frankreich lebende Veteran Likiernik in der polnischen Ausgabe von "Newsweek". "Da der Aufstand keine Chance auf Erfolg hatte, kann man ihn getrost als Verbrechen bezeichnen."

Likiernik vertritt die erst seit ein paar Jahren erstarkende kritische Einschätzung jenes bisher letzten bewaffneten polnischen Aufstandes. Zum 70. Jahrestag schwankt in Polen die Bewertung zwischen Herleitungen eines totalem militärischem Unsinns und den höchsten Heldengesängen. Viele sind noch heute überzeugt, dass Polen ohne Warschauer Aufstand eine Sowjetrepublik geworden wäre. Umstritten war der Versuch, die Hauptstadt beim Heranrücken der Roten Armee aus eigenen Kräften zu befreien, schon damals. Vorausgegangen waren kläglich gescheiterte ähnliche Versuche in den damals noch polnischen Städten Lemberg und Vilnius, wo die Sowjets die polnische Zivilverwaltung sofort hatte verhaften lassen.

Die polnische Führung unter dem Heimatarmee-General Tadeusz Komorowski hatte den Aufstand nach langem Zaudern eher unvermittelt nach heftigen internen Streitereien losgebrochen. Man wollte die Sowjets als Herrscher über Warschau empfangen; damit sollte die bürgerliche Londoner Exilregierung bei Nachkriegsverhandlungen mehr Gewicht bekommen. Anfang August befanden sich erste Truppenteile der Roten Armee bereits in den östlichen Vororten Warschaus; sowjetische Propagandasender forderten die Bewohner der Hauptstadt zum Aufstand gegen die deutschen Besatzer auf. Hitler indes hatte die Verteidigung Warschaus um jeden Preis befohlen.

 Schlecht bewaffnete Soldaten

Begonnen hatte der Aufstand am 1. August 1944 um 17 Uhr. Vier von zehn Untergrundsoldaten bekamen vom Beginn gar nichts mit. Dennoch nahmen die Aufständischen, die sich monatelang in geheimen Schulungen der Untergrundarmee auf diesen Tag – die so genannte "Stunde W" - vorbereitet hatten, schnell die Innenstadt und mehrere umliegende Stadtteile ein. Bereits am ersten Abend wehte auf dem höchsten Gebäude der Stadt, dem Prudiencial-Hochhaus, die rot-weiße polnische Flagge. Neben den Untergrundkämpfern der bürgerlichen Heimatarmee (Armia Krajowa) hatten sich auch ein paar Kampfgruppen der kommunistischen polnischen Volksarmee erhoben. Insgesamt nahmen 35.000 bis 45.000 schlecht bewaffnete Soldaten den Kampf gegen die anfänglich rund 20.000 deutschen Besatzungskräfte auf. Nur jeder vierte Untergrundsoldat hatte eine Waffe.

Innerhalb der ersten vier Tage gelang es den Polen in erbittert geführten Häuserkämpfen große, jedoch nicht zusammenhängende Teile Warschaus zu erobern – darunter auch das KZ Gesiowka am Rande des im Mai 1943 nach dem jüdischen Aufstand zerstörten Ghettos, wo über 300 Juden befreit wurden. Die befreiten Stadtteile setzten eine eigene Zivilverwaltung ein, ein polnischer Oberbürgermeister übernahm das Amt und versuchte zu koordinieren. Kriegsreporter filmten für Wochenschauen, Dutzende freie Pressetitel entstanden, sogar die polnische Post nahm ihre Arbeit wieder auf. Die Westalliierten unterstützen die Aufständischen anfangs mit Waffen- und Munitionsabwürfen aus der Luft. Doch die Rote Armee unternahm nunmehr keine Anstalten mehr, rasch zum Stadtzentrum vorzustoßen. Die deutschen Besatzungstruppen zogen eiligst Einheiten um Warschau zusammen.

Die Verluste sind riesig

Nachdem die Stadtteile Praga, Wola und Ochota bis Mitte August gefallen waren, zogen sich die Aufständischen Anfang September über die Abwasserkanäle auch aus der Altstadt zurück. Mitte September versuchte die der Roten Armee untergeordnete polnische Berling-Armee nach der Eroberung des östlichen Stadtteils Praga ihren Landsleuten über die Weichsel zu Hilfe zu eilen – allerdings ohne Erfolg. Am Ende des Monats mussten auch die Stadtteile Mokotow und Zoliborz kapitulieren. Am 2. Oktober unterzeichnete General Komorowski die Kapitulation. Fast 12.000 Untergrundsoldaten sowie Zehntausende von Zivilisten werden in der Folge über das Durchgangslager Pruszkow in deutsche KZs oder zur Zwangsarbeit verschleppt, rund eine halbe Million der damals noch 700.000 Einwohner umgesiedelt. Schätzungsweise tausend Zivilisten und ehemalige Kämpfer blieben widerrechtlich in den Trümmern zurück.

Der Blutzoll des Selbstbefreiungsversuchs war enorm: Mindestens 15.000 polnische Untergrundsoldaten wurden getötet und rund 20.000 verletzt; dazu kommen je nach Schätzung 120.000-200.000 zivile Opfer. Dem gegenüber stehen rund 1500 deutsche Opfer. Nach der Kapitulation wurden ganze Straßenzüge von den Deutschen zerstört, fast 90 Prozent der Vorkriegsbauten wurden zerstört, eine Wunde die bis heute unübersehbar klafft.

"Es war eine totale Improvisation", urteilt der Vizedirektor des in Danzig entstehenden Polnischen Weltkriegsmuseums, Janusz Marszalec. "Der Plan war unrealistisch und die Armeeführung wusste das genau", schätzt Marszalec und weist darauf hin, dass es beim Warschauer Aufstand mehr Opfer gab bei Hitlers Angriff auf Polen im September 1939. Der Kult um den Warschauer Aufstand habe nicht erst unter der Herrschaft der Kaczynski-Zwillinge begonnen, sondern sofort nach der Niederlage, erklärt Marszalec in "Ale Historia", der Geschichtsbeilage der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Die vernichtende Niederlage sei noch 1944 in einen "geistigen Sieg" verwandelt worden. Heute rankt sich in Polen um den Warschauer Aufstand ein eine blühende Pop-Kultur.

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