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Nunmehr 70 Jahre alt: das deutsche Grundgesetz.

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70 Jahre Grundgesetz: In unsicherer Verfassung

70 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes braucht uns nicht mehr der Verfassungsfeind Sorgen bereiten. Es ist der politische Normalbetrieb. Ein Essay.

Maximilian Steinbeis ist Autor mehrerer Bücher und betreibt seit 2009 das "Verfassungsblog".

Vor zehn Jahren war die Aufgabe, zum 60. Verfassungsgeburtstag einen Artikel zu schreiben, noch eine vergleichsweise geradlinige Angelegenheit: hier war das Grundgesetz, Gegenstand unseres mustergültig demokratischen und liberalen Verfassungspatriotismus, aus Niederlage, Teilung und Besatzungsherrschaft einst geboren, dann zur vielbewunderten und -kopierten gesamtdeutschen Vollverfassung herangediehen. Mit dem vereinten Europa als Fluchtpunkt seiner Geschichte am Horizont.

All seinen Feinden, Kommunisten wie Nazis, hat es widerstanden als wehrhafte Demokratie, die aus dem Schicksal der Weimarer Vorgängerin gelernt hat, sich zu verteidigen und gleichwohl sich selber treu zu bleiben. Das gab Anlass zur Hoffnung, dass ihr dasselbe auch gegen den islamistischen Terror gelingen wird. Daraus, so schien es im Jahr 2009, ließ sich eine straffe Verfassungserzählung spinnen, die ihre Spannung aus dem klaren Unterschied bezog zwischen dem zu Verteidigenden und dem, wogegen es verteidigt wird: das Grundgesetz im Spannungsfeld der Abwehr seiner Feinde.

Die Erzählung von der vollendeten Geschichte ist verloren

Zehn Jahre später, zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes, kann man diese Geschichte so nicht mehr erzählen. Nicht nur, weil die Erzählung vom Grundgesetz als Vollendung deutscher Einheit und Wegweiser europäischer Einigung durch Pegida und Eurokrise stark an Evidenz verloren hat. Es sind die Spannungspole, die nicht mehr funktionieren.

Das Grundgesetz – im Gegensatz wozu? Vor zehn Jahren gab es die NPD und die Neonazi-Kameradschaften, die als geschworene Feinde von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten ein plausibles Außen abgaben zu dem zu verteidigenden Innen des Grundgesetzes. Heute ist die NPD nur deshalb überhaupt noch da, weil sie dem Bundesverfassungsgericht 2017 für ein Parteiverbot zu unbedeutend erschien. Stattdessen sammelt sich das rechte Spektrum in der AfD. Und die kennzeichnet, dass sie bei aller Verbalradikalität gegenüber dem „System“ über das Grundgesetz kaum jemals anders als in den höchsten Tönen der Affirmation redet.

Die AfD verfassungsfeindlich? Oh, nichts weniger als das. Sie schwingt sich, im Bunde mit konservativen Staatsrechtslehrern, zur Verteidigerin der bundesdeutschen Verfassungsidentität gegen europapolitische Entstaatlichung und flüchtlingspolitischen „Rechtsbruch“ auf. Sie inszeniert sich als Streiterin für Pluralismus und Meinungsfreiheit wider den angeblichen Tugendterror links-liberaler Gesinnungseliten und für „Aufklärung“ und die Emanzipation von Frauen und Homosexuellen, wenn es gegen den Islam geht. Wo immer ihnen die Verteidiger des Grundgesetzes mit dem Versuch einer Feindbestimmung entgegentreten wollen, so hat es den Anschein, schallt es wie in dem Märchen vom Hasen und dem Igel: Ick bün all dor!

Die Autokraten machen sich demokratische Verfassungen zunutze

Das hat Methode. Eine autoritäre Herrschaft errichtet man heutzutage nicht mehr durch Staatsstreich und bewaffneten Umsturz, durch Auflösung des Parlaments und Verhaftung politischer Gegner. Nicht die Beseitigung der demokratischen Verfassung und ihrer Institutionen ist im 21. Jahrhundert das Ziel autoritärer Parteien und Bewegungen, sondern sie sich zu Diensten zu machen. Viktor Orbán in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen haben vorgemacht, wie das geht. Beide haben unterschiedlich elegant, aber gleichermaßen erfolgreich dafür gesorgt, dass die Verfassung ihnen bei der Absicherung ihres Machtanspruchs nicht mehr groß in die Quere kommen kann und sich dafür umso mehr als Abwehrinstrument gegen völker- und europarechtliche Rechtspflichten nützlich macht.

Die Schlüsselrolle dabei spielt jeweils das Verfassungsgericht: Das haben sich Orbán und Kaczynski aus gutem Grund jeweils zuallererst vorgeknöpft. So brauchen sie nicht nur keinen verfassungsgerichtlichen Widerstand mehr zu befürchten, sondern haben obendrein einen Trumpf in der Hand, wenn die europäischen Gerichte in Luxemburg und Straßburg ihnen Schwierigkeiten bereiten: Dann erklärt das gehorsame Verfassungsgericht flugs, dass die Einmischung aus Europa gegen die eigene Verfassungsidentität verstößt. Das kann sehr praktisch sein im Konflikt mit EU und Europarat.

Mit Feinderklärungen und „wehrhafter Demokratie“ richtet man gegen diese Art der Verfassungskorrosion von innen nichts aus. Im Gegenteil, wer sich aus berechtigter Sorge um die Verfassung der Versuchung hingibt, den Einsatzbereich des grundgesetzlichen Waffenarsenals vom Extrem- und Ausnahmefall in den politischen Normalbetrieb hinein auszuweiten, der besorgt das Geschäft der Autoritären, ohne dass diese selbst noch einen Finger krumm zu machen brauchen. Um den politischen Normalbetrieb abzusichern, bedient sich die Verfassung anderer Mittel, die mit Wehrhaftigkeit, Verboten und anderen autoritären Maßnahmen nichts zu tun haben – allen voran der Unterscheidung zwischen einfachem und verfassungsänderndem Gesetzgeber.

Wer Kanzler ist, darf noch lange nicht das GG ändern

Wer am Grundgesetz etwas ändern will, braucht eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Eine Wahl zu gewinnen und eine Mehrheit im Parlament hinter sich zu versammeln, reicht dafür aus, zum Kanzler gewählt zu werden, eine Regierung zu bilden und Gesetze verabschieden, ändern und aufheben zu können, kurz: um Macht auszuüben. Aber um die grundlegenden Regeln zu verändern, nach denen die Macht erworben wird, also die Verfassung – dazu reichen Wahlsieg und Mehrheit nicht. Dafür muss die Opposition mit ins Boot, die im Wettstreit um die Mehrheit unterlegene, gerade nicht zur Machtausübung legitimierte Minderheit. Deshalb Zweidrittelmehrheit.

Das Grundgesetz in Zeiten von AfD & Co.

Nunmehr 70 Jahre alt: das deutsche Grundgesetz.
Nunmehr 70 Jahre alt: das deutsche Grundgesetz.

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Diese Unterscheidung zwischen der Macht durch die Verfassung und der Macht über die Verfassung – sie ist es, die in Polen und in Ungarn nicht mehr funktioniert. Orbán wie Kaczynski nehmen für sich auf Basis ihrer jeweiligen Wahlsiege die Macht auch über die Verfassung in Anspruch. Orbán verschafft sie sich durch ein groteskes Wahlsystem, das ihm die entsprechende Mehrheit der Stimmen im Parlament beschert. Und Kaczynski erreicht es dadurch, dass er das Land in einer dauerhaften Verfassungskrise hält und einfach Fakten schafft. In beiden Ländern leistet die Verfassung nicht mehr, was eine Verfassung leisten muss, nämlich den politischen Normalbetrieb von Auseinandersetzungen um die Regeln des legitimen Machterwerbs frei zu halten. So wird der Machterwerb zu einer Frage des Machtbesitzes. Ergo autoritär.

Für das Grundgesetz in Zeiten der AfD, um auf unser Problem mit der Verfassungserzählung zurückzukommen, heißt das Folgendes: Wer sich um die Verfassung im achten Jahrzehnt ihres Bestehens Sorgen macht, dem bleibt nicht bloß die Wahl zwischen „wehrhaftem“ Verfassungsautoritarismus auf der einen und dem gerührten Psalmodieren von Grundrechtsartikeln auf der anderen Seite, um die von der AfD verkörperte Gefahr zu bannen. Es gibt etwas zu tun.

Der kritische Punkt ist das Bundesverfassungsgericht

Die Absicherung des politischen Normalbetriebes, die das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit leistet, reicht, soweit es um den Buchstaben des Grundgesetzes selber geht. Die Regeln, nach denen im System der Bundesrepublik politische Macht erworben, verteilt und kontrolliert wird, sind aber keineswegs alle im Grundgesetz selber verankert. Das Wahlrecht, das Parteienrecht, das Parlamentsrecht, das ganze Gestänge und Getriebe des Verfassungsrechts, ist in einfachen Bundesgesetzen niederlegt. Und die kann eine einfache Parlamentsmehrheit jedenfalls formell ohne viel Federlesens zu ihren Gunsten ändern, vielfach sogar ohne die Zustimmung des Bundesrats zu benötigen.

Materiell würde sicherlich das Bundesverfassungsgericht darauf aufpassen, dass sich hier niemand einen unfairen politischen Vorteil verschafft. Aber damit kommen wir zum kritischen Punkt, und der ist das Bundesverfassungsgericht selbst. Eine Bundestagsmehrheit, die sich Orbán und Kaczynski zum Vorbild nimmt, würde nicht lange brauchen, um zu merken, welch weitreichende Möglichkeiten das Grundgesetz ihr zugesteht, das Bundesverfassungsgericht nach allen Regeln der Kunst lahm zu legen. Und zwar ohne am Grundgesetz selbst auch nur einen Buchstaben verändern zu müssen.

Im Grundgesetz selbst ist geregelt, dass es das Bundesverfassungsgericht gibt und wofür, dass seine Richterinnen und Richter je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden und dass ein Teil von ihnen vom Bundesgerichtshof, vom Bundesverwaltungsgericht und den anderen obersten Fachgerichten kommen muss. Alles andere aber, insbesondere „Verfassung und Verfahren“ des Bundesverfassungsgerichts (Artikel 94 Absatz 2 Grundgesetz), steht nicht in der Verfassung selbst, sondern in einem regulären Bundesgesetz. Das eine einfache Mehrheit im Bundestag ändern kann.

Mit einfachen Mehrheiten könnte man schon viel manipulieren

Bislang steht in diesem Gesetz, dass die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts in Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden müssen. Damit ist dafür gesorgt, dass die Regierungsmehrheit nicht immer nur getreue Gefolgsleute nach Karlsruhe schickt, damit die dort dafür sorgen, dass das Gericht ihr bei der Umsetzung ihres Programms nicht in die Quere kommt. Nichts würde dieselbe Regierungsmehrheit aber daran hindern, das Gesetz zu ändern und dieses Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit kurzerhand abzuschaffen.

Damit hätte sie noch nicht gleich das Verfassungsgericht unter ihrer Kontrolle: Bis genügend Posten in den beiden Senaten frei werden, dass sich die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten drehen, würden womöglich Jahre vergehen. Da könnte sie aber nachhelfen: Sie könnte die Zahl der Richterposten in den Senaten erhöhen, von acht auf zwölf etwa. Sie könnte auch einen dritten Senat schaffen und komplett selbst besetzen. Sie könnte diesem dritten Senat alle politisch kritischen Verfahren zuschieben.

Wem dieses Szenario zu weit geht: Sie könnte sich auch damit begnügen, für so genannte „normverwerfende“ Urteile – also solche, die Gesetze für verfassungswidrig erklären – im Senat eine Zweidrittelmehrheit zu verlangen. Diese Forderung wurde aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag immer wieder mal erhoben. Dann würde schon eine regierungshörige Sperrminorität von drei Richtern pro Senat genügen, um das Verfassungsgericht effektiv zu neutralisieren.

Wird der politische Normalbetrieb ausreichend geschützt?

Mein Petitum ist nicht, Verfahren und Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts künftig bis ins letzte Detail im Grundgesetz selbst zu regeln, um sie einer hypothetischen autoritären Parlamentsmehrheit zu entziehen. Mit der Erwartung, jede noch so entfernte Missbrauchsmöglichkeit abzudecken und zu verhindern, wäre jede noch so klug konzipierte Verfassung überfordert. Kein konstitutionelles Regelwerk wird jemals so raffiniert und ausbalanciert und vollständig sein, dass es ohne ein Minimum an vorgefundener politischer Kultur der Fairness auskäme.

Mein Petitum ist vielmehr, den Regelbestand des deutschen Verfassungsrechts kritisch daraufhin zu überprüfen, ob es den politischen Normalbetrieb hinreichend schützt. Ein Beispiel, wo mir dies evident nicht der Fall zu sein scheint, ist das Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Das sind Lücken in der Absicherung des politischen Normalbetriebs, die wir uns nicht leisten können. Nicht mehr, seit die AfD die politische Bühne betreten hat.

In den ersten sieben Jahrzehnten des Grundgesetzes gab es wenig Anlass, sich über solche Dinge allzu sehr den Kopf zu zerbrechen. Das hat sich geändert. Es ist nicht mehr der Verfassungsfeind, der uns Sorgen bereiten sollte. Es ist der Normalbetrieb, der unsicher geworden ist. Um ihn müssen wir uns kümmern. Das scheint mir die dem achten Jahrzehnt des Grundgesetzes angemessene Verfassungserzählung zu sein. Für eine vitale bürgerschaftliche Verfassungskultur wäre das ohnehin nicht das Schlechteste.

Maximilian Steinbeis

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