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Eleanor Roosevelt, erste Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission, mit der gedruckten Fassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948.

© Wikipedia

70 Jahre Erklärung der Menschenrechte: "Die Mächtigen wehren sich"

70 Jahre nach ihrer feierlichen Proklamation sind die Menschenrechte weltweit unter Druck. Michael Windfuhr vom Institut für Menschenrechte erklärt, warum.

Vor 70 Jahren nahmen die Staaten  der  Welt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Wäre das heute noch denkbar?

Das ist tatsächlich eine offene Frage. Im UN-Menschenrechtsrat zum Beispiel sind in den letzten Jahren viele Debatten schwieriger geworden, die früher ohne weiteres im Konsens entschieden wurden.

Was war 1948 anders?

Ich denke, entscheidend war der Schock der NS-Verbrechen und des Totalitarismus. Das Naziregime hatte Menschenrechte mit einer Konsequenz negiert wie keines zuvor. Es war eine allgemeine und enorme Erschütterung, dies zu entdeckte. Daraus entstand ein Text, der die Würde des Menschen in allen ihren Dimensionen in den Mittelpunkt stellte und anerkannte, dass zur Würde - auch das war übrigens damals Konsens -  sowohl die bürgerlichen und politischen Rechten wie auch die wirtschaftlichen und sozialen gehören. Das ist im Kalten Krieg danach sofort verloren gegangen. Der Osten ignorierte die bürgerlichen Rechte, in den USA gibt es nach wie vor Schwierigkeiten mit der Anerkennung der sozialen Rechte, wie die dortige Debatte über das Recht auf Gesundheit zeigt.

Das heißt, so neu ist der Druck gar nicht, unter den die Menschenrechte geraten?

Nein. Gleichzeitig sind sie an vielen Stellen sogar stärker akzeptiert als damals. Es genügt, sich die modernen Verfassungen anzusehen, die in den letzten 20 oder 30 Jahren entstanden sind wie beispielsweise die von Südafrika. Sie enthalten mit großer Selbstverständlichkeit den gesamten Menschenrechtskanon. Wunderbare Texte, an denen man ablesen kann, dass der Vorwurf nicht stimmt, die Menschenrechte seien ein westliches Konstrukt.

Michael Windfuhr, stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte
Michael Windfuhr, stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte

© Deutsches Institut für Menschenrechte

Ein Vorwurf, der oft von nichtwestlichen Regierungen erhoben wird.

Frauenaktivistinnen in Asien, Menschenrechtsverteidiger überall, aber auch Bauern in Afrika würden die Allgemeine Erklärung sicher heute ohne jeden Abstrich unterschreiben. Menschenrechte sind immer auch Abwehrrechte gegen unbeschränkte Macht. Die Menschen auf dem Land in Brasilien fürchten sich jetzt nach dem Regierungswechsel schon vor einer neuen Welle der Gewalt und Landkonflikte. Der neue Präsident hat die größte Säuberungswelle gegen soziale Bewegungen angekündigt. Auch sie haben mit Sicherheit eine klares Verständnis für die Bedeutung der Menschenrechtserklärung von 1948.  

Dennoch sagt auch Ihr Institut, dass die Menschenrechte, die immer schon praktisch verletzt wurden, nun auch grundsätzlich angegriffen werden.

Wie gesagt, Menschenrechte waren und sind, da sie Macht und die Herrschaft von Regierungen und Eliten begrenzen, immer unter Beschuss und wurden von denen in Frage gestellt, deren Macht sie einer rechtsstaatlichen Kontrolle unterwerfen. Das galt schon für die erste Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution. Das ist nichts wirklich Neues. Es gibt aber die jüngere Entwicklung, dass sie von einer wachsenden Zahl von halbautoritären und autoritären Regimen - inzwischen auch in Industrieländern - leichter in Frage gestellt werden. In über 70 Ländern wurden in den letzten zehn Jahren Gesetze verabschiedet, die die Spielräume von Zivilgesellschaft eingeschränkt haben.

Wo sehen Sie die Gründe?

Es gibt aus meiner Sicht zwei. Einmal war das die Gegenreaktion vieler autoritärer Regierungen auf die starke Zunahme von Teilhabe der Zivilgesellschaft seit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren. Diese Regierungen sind es, salopp gesagt, leid, was in dieser Zeit des Aufbruchs alles an Partizipation entstand. Die Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 bekräftigte die Unteilbarkeit und universelle Gültigkeit der Menschenrechte, sie wurden erweitert und präzisiert um Menschenrechtsverträge zu Rassismus, Folter, Verschwindenlassen oder die Rechte von Menschen mit Behinderungen . Es gab die Umweltkonferenz in Rio 1992, die Frauenkonferenz in Peking 1994, die Weltsozialkonferenz in Kopenhagen 1995, den Welternährungsgipfel 1996 in Rom. In aller Welt formierten sich starke zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen, die Ansprüche formulierten und rasch wuchsen. Das hat eine Gegenbewegung auf den Plan gerufen, diese Ansprüche zu beschneiden. Womit Russland anfing – denken Sie an das Gesetz gegen „ausländische Agenten“, das Menschenrechtsaktivisten von ausländischem Geld abschneidet – wurde dann von vielen abgeschrieben, nicht nur von autoritären Regierungen. Auch Indien ist dabei. Zweitens hat diese Zeit auch ein Mehr an Transparenz gebracht, das für Menschenrechte ganz wesentlich ist. Die hohen Anforderungen an öffentliche Kontrolle von Verträgen, Budgets, Investitionsabkommen hat dann natürlich die Spielräume staatlicher und wirtschaftlicher Macht beschränkt und dagegen wehren sie sich. Das heißt aber nicht, dass die Welt heute menschenrechtlich schlechter dastünde als in den 80er Jahren. Es gab eben diesen Aufbruch in den 90ern, auf den eine Gegenbewegung reagiert hat. 

Das erklärt aber noch nicht die wachsende Ablehnung von Menschenrechten – Beispiel Flüchtlingspolitik - durch den deutschen Gymnasiallehrer oder die ungarische Parlamentsabgeordnete?

Das ist zum großen Teil eine Reaktion auf den erlebten Verlust von Steuerungsfähigkeit des Nationalstaats. Es macht etwas mit Gesellschaften, wenn, wie in den USA, alles Wachstum praktisch ausschließlich an das obere Prozent der Einkommen  geht. Das Nichtteilhaben, die großen Diskrepanzen, die die schnelle Globalisierung erzeugt hat, einerseits irrer Reichtum, andererseits geschwächte Sozialsysteme, die Verlagerung von Jobs – das wirkt auf Menschen. Manchmal mit großer Verzögerung. Die Globalisierung nahm vor allem seit den 90er Jahren an Fahrt auf. Beispielsweise: Die Welthandelsorganisation WTO gibt es seit 1994, den EU-Binnenmarkt seit 1992. Erst jetzt spüren wir die Reaktion darauf. Es gibt Verlierer. Und die haben auch eine Stimme.

Die Leute, die ich eben angesprochen habe, sind aber nicht unbedingt Verlierer.

Das stimmt, aber die Verunsicherung geht über die unmittelbar Betroffenen hinaus. Ein sicherer Zugang zu Wohnungen ist für viele Menschen ein echtes Problem. Auch wenn nicht jede und jeder akut auf Wohnungssuche ist: Die Angst, gegebenenfalls keine mehr zu finden, wirkt auf viel mehr Menschen.

Das heißt, die Wutbürger haben Recht?

Anders als sie meine ich nicht, dass alles den Bach runtergeht. Sie machen gerade viele funktionierende Institutionen des Rechtsstaats schlecht, da sie von der  Angst leben. Unser Sozialstaat funktioniert in der Regel gut und wurde nicht abgebaut. Aber ich kann verstehen, dass viele Menschen verunsichert sind.

Noch einmal ein Blick in die weitere Welt. Sie sprachen davon, dass in den letzten Jahren die Debatten im UN-Menschenrechtsrat schwieriger geworden seien. Haben Sie Beispiele?

Die meisten Themen im UN-Menschenrechtsrat wurden lange selbstverständlich im Konsens abgestimmt. 2007 und 2008 waren 32 beziehungsweise 35 Prozent der Abstimmungen strittig, 2013 sogar nur 20 Prozent. Im vergangenen September allerdings konnten bereits 40 Prozent der Texte nicht im Konsens verabschiedet werden Das heißt, dass immer häufiger abgestimmt und ausgezählt werden muss. Oft zu Themen, von denen man meint, das könne doch nun wirklich nicht strittig sein – zum Beispiel, wenn es um Angriffe auf Zeuginnen geht, die vor den Vereinten Nationen über Menschenrechtsverletzungen berichtet haben. Oder im Fall der wirklich schrecklichen Menschenrechtslage im Jemen, als es bei der Resolution jetzt im September 18 Enthaltungen und 8 Nein-Stimmen gab.

Wer war dagegen?

Hier waren es Venezuela, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Pakistan, Ägypten , Burundi, Kuba, China. Alle halb- bis ganz autoritär. Dazu kommen immer öfter Länder des globalen Südens, die früher wichtige Menschenrechtsverteidiger waren, die nach einem Regierungswechsel aber inzwischen autoritärer geworden sind. Die Philippinen oder Brasilien.

Angesichts der Lage in aller Welt fragen sich etliche, warum denn ein Land wie Deutschland ein Institut für Menschenrechte brauche.

Deutschland ist auf internationaler Ebene in der Verteidigung der Menschenrechte tatsächlich eine starke Bank und engagiert sich auch für wirtschaftliche und soziale Rechte, zum Beispiel das Recht auf Wohnung oder Wasser. Inzwischen sind die Deutschen da manchmal sogar engagierter als die Skandinavier, die traditionell an der Spitze standen. Innerstaatlich sind wir ein Rechtsstaat. Aber auch bei uns gibt es benachteiligte Menschen und Gruppen, deren Rechte übersehen und nicht immer geschützt werden.

Der aktuelle Jahresbericht Ihres Instituts an den Bundestag dokumentiert dramatische und etliche Fälle von Arbeitsausbeutung.

Dies und wir haben uns auch mit Zwang in der Psychiatrie, den Rechten von Flüchtlingen, etwa in der Familienzusammenführung, und mit den problematischen Folgen deutscher Rüstungsexporte beschäftigt. Natürlich ist das alles nicht mit der Lage im Südsudan vergleichbar. Aber wenn Kinder aus ärmeren Familien messbar weniger Chancen im Bildungssystem haben, wenn der Abstand der Lebenserwartung zwischen Armen und Reichen bei uns bis zu zehn Jahre beträgt, wie die OECD kürzlich veröffentlichte, dann ist dies menschenrechtlich relevant und kann weder  dem Staat noch der Gesellschaft  egal sein.

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