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Schandmal. DDR-Grenzsoldaten an der frisch gestrichene Mauer zum West-Berliner Bezirk Kreuzberg (1985).

© Wolfgang Kumm/dpa

60 Jahre Mauerbau: Das Leben braucht Grenzen - aber keine, die das Leben kosten

Die Berliner Mauer lehrt uns viel über das Leben heute. Die Welt kann nicht nur in Teilen gedacht werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Das durfte nicht wahr sein: Dass eine Grenze ein Land in zwei zerteilt, einer ganzen Stadt das Herz zerreißt. Dass ein Grenzregime Menschen umbringt, die auf die andere Seite wollen zu Freunden, Familie, ihren Träumen. 28 Jahre lang blutete die Wunde aus Beton in Berlin, brachte die Mauer durch Deutschland Tod und Leid. Vor 60 Jahren erbaut durch die DDR-Staatspartei SED, 1989 zerstört durch die Kraft einer friedlichen Revolution. Inzwischen ist die Mauer länger gefallen als sie stand. Verheilt ist die Wunde nicht. Denn die Schmerzen von gestern erzählen uns viel über die Grenzen des Heute.

Weltweit fallen Mauern nicht. Amerika grenzt sich ein, Europa schottet sich ab – Flüchtlinge sollen um fast jeden Preis aufgehalten werden. Die Mauer zwischen der Türkei und Iran ist fast unüberwindlich. Europas Schurkenstaat Belarus instrumentalisiert seine Grenze, schiebt dort Menschen hin und her, um die demokratischen Nachbarn zu destabilisieren. Und in Corona-Zeiten wirkt grenzenloses Reisen wie ein Traum aus ferner Zeit. Die Welt bleibt gespalten. Den Traum, frei zu leben, kann das nicht aufhalten.

Seit dem Mauerbau ist Berlin ein weltweites Symbol dieses Traums. Die unglaubliche Geschichte einer geteilten Metropole, deren Menschen Tunnel gruben oder Ballons bastelten, um rüberzukommen. Menschen, die ihre Angst überrannten und ihre Stadt wieder zusammenfügten, haben die Welt von Herzen bewegt. Dies hat zur politischen Neugründung der Berliner Republik geführt, zur kulturellen Neuerfindung im Takt der Technobeats auf den Ruinen der DDR, zur Neudefinition Europas als Union mit einer Währung und hoffentlich einigenden Werten. Ohne die bewegenden Geschichten aus der bewegten Geschichte wäre Berlin heute keine Stadt von Welt.

Natürlich gibt es kein Leben ohne Grenzen. Aber es darf keine Grenzen geben, die Leben kosten. 140 Menschen sind in 28 Jahren in Berlin gestorben für ihren Wunsch, frei zu sein. An sie erinnern Gedenkstätten wie das „Parlament der Bäume“ des kürzlich verstorbenen Künstlers Ben Wagin. Und Betonreste, die das räumliche und emotionale Ausmaß der Mauer nur noch erahnen lassen. Aus dem Bewusstsein ist die Grenze nicht verschwunden. Darf sie auch nicht.

Das kollektive Gedächtnis braucht die Teilungsgeschichte

Seltsam, dass erst jetzt deutlich wird, wie wertvoll die Teilungsgeschichte für das kollektive Gedächtnis in Deutschland und Europa ist. Plötzlich werden alte Hinterlandmauern entdeckt und hektisch vor Abriss-Investoren unter Denkmalschutz gestellt. Plötzlich gibt es eine Beauftragte des Bundestags für SED-Opfer (warum erst jetzt?). Plötzlich kommt der Vorschlag, die Teilung stärker im Abitur zu verankern (warum nicht längst?).

Und in der Corona-Pandemie entdecken viele ein lebendiges Denkmal: Der Mauerradweg rund ums einst von der DDR eingeschlossene West-Berlin ist ein beliebter Ausflugspfad. Die Geschichte hat sich Zeit gelassen, uns an sie zu erinnern. Nun ist es höchste Zeit, sich ihr zu vergewissern – damit sich Berlin vor lauter Glattsanierung nicht selbst vergisst.

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Hier in Berlin, am Schauplatz der einst geteilten Träume und Bürgersteige, ist der richtige Ort, um unser Leben von Morgen zu verhandeln. „Freiheit für Belarus“ steht auf einem Mauerstück am Potsdamer Platz. Der Blick nach Osteuropa ist von Berlin aus leichter; Hilfe für demokratische Bewegungen in Polen und Ungarn von hier aus selbstverständlicher. Ohne den Osten versteht sich auch der Westen nicht.

Welche Grenzen setzt unsere Demokratie, an welchen Mauern scheitern Menschenrechte? Diese Fragen bleiben wichtig fürs vereinte Land. Die Geschichte der Mauer zeigt der Welt, dass sie nicht nur in Teilen gedacht werden kann. Ein tödliches Virus und einen bedrohlichen Klimawandel halten Grenzen nicht auf.

Berlin und sein Umland dürfen von der Weltmetropole der Zukunft träumen. Dabei zeigt die Vergangenheit des Eingemauertseins, dass man sich gedanklich und im Herzen nicht eingrenzen darf. Dass Menschen frei leben wollen. So wie wir heute.

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