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Auf Godesberg folgten die goldenen Jahre der SPD - mit den Kanzlern Brandt (links) und Schmidt.

© dpa/Kurt Rohwedder

60 Jahre Godesberger Programm: Die SPD muss Volkspartei der linken Mitte bleiben

Vor 60 Jahren wurde die SPD regierungsfähig – das soll auch so bleiben. Ein Zurück hinter Godesberg kann es nicht geben. Ein Gastbeitrag.

Rolf Mützenich ist Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Carsten Schneider ist deren Erster Parlamentarischer Geschäftsführer.

Es war der 15. November 1959, Stadthalle Bad Godesberg: Drei Tage lang hatte der SPD-Parteitag leidenschaftlich über ein neues Grundsatzprogramm diskutiert. Sollten sich die Sozialdemokraten wirklich, wie die Parteireformer forderten, vom Marxismus abwenden, auf die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien verzichten, eine freie Partnerschaft mit den Kirchen anstreben? Zwei alternative Entwürfe und knapp 200 Änderungsanträge lagen auf dem Tisch. Trotz dieser Zerreißprobe stimmten am Ende nur 16 Delegierte gegen das neue Programm.

In dem bekannte sich die SPD zur Marktwirtschaft und zur Landesverteidigung, sie betonte ihre Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und verabschiedete sich von marxistischen Theoriegebäuden, von „letzten Wahrheiten“ und sozialistischen Endzielen. Den Kapitalismus akzeptierte sie, um ihn sozial gestalten zu können. „Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden“, heißt es im Godesberger Programm.

Die Neuausrichtung war dringend notwendig. Hinter der SPD lagen zehn schwierige Jahre in der Opposition. Spätestens die krachende Niederlage bei den Bundestagswahlen 1957 machte deutlich: Die Partei war lebensweltlich und programmatisch nicht mehr anschlussfähig an eine Gesellschaft, die sich im „Wirtschaftswunder“ rasant veränderte. Die alte Arbeiterbewegung mit ihren Vereinen, Presseorganen und ihrer sozialistischen Kultur war zusammengeschrumpft. Die „Traditionskompanie“ musste sich öffnen, um wieder wählbar, um regierungs- und koalitionsfähig zu werden.

Das Godesberger Programm beseitigte programmatisch-inhaltliche Bürden für einen Weg an die Regierung, es eröffnete neue Zugänge zu bürgerlichen und kirchlichen Milieus und erweiterte die Handlungsspielräume in der Außen- und Wirtschaftspolitik. Die SPD minimierte damit auch die Angriffsfläche für Diffamierungskampagnen ihrer Gegner. Niemand sollte ihr mehr vorwerfen können, nörglerisch am Spielfeldrand zu stehen. Es folgten die goldenen Jahre der Sozialdemokratie mit den Kanzlerschaften von Willy Brandt und Helmut Schmidt.

Das Godesberger Programm war Vorbild für sozialdemokratische Parteien auf der ganzen Welt

Kein Wunder also, dass das Godesberger Programm als Meilenstein der Parteigeschichte gilt. Sozialdemokratische Parteien auf der ganz Welt nahmen sich ein Vorbild daran. In der SPD gibt es kaum eine Grundsatzrede, in der es nicht erwähnt wird. Und dennoch stellt sich die Frage, ob die Philosophie von Bad Godesberg heute noch trägt, ob die historischen Lehren von damals aktuell sind – oder ob die SPD 60 Jahre später neue Pfade beschreiten muss.

So wird immer wieder gefordert, die SPD müsse sich von ihrem Anspruch verabschieden, Volkspartei zu sein. Sie könne sich keine programmatischen Unschärfen mehr leisten und müsse sich auf eine engere Klientel konzentrieren. Andere behaupten wiederum, die SPD habe sich zu sehr auf ein Milieu von grünlinksliberalen Postmaterialisten fokussiert. Stattdessen müsse sie verstärkt die „kleinen Leute“ ansprechen, mit einer Mischung aus Law and Order und umverteilender Sozialpolitik.

In der Tradition des Godesberger Programms kommen wir zu einer anderen Einschätzung: Volksparteien sind nach wie vor wichtig. Sie können Konflikte kanalisieren, indem sie unterschiedliche Interessen und Positionen bereits intern debattieren und Kompromisse ausloten. In einer polarisierten Gesellschaft sorgen sie einerseits für Rationalität und Expertise, andererseits für soziale Balance und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine integrierende Volkspartei zu sein, ist also eine Stärke und keine Schwäche, heute mehr denn je.

Ein Delegierter beim Landesparteitag der SPD Hessen
Ein Delegierter beim Landesparteitag der SPD Hessen

© dpa/Swen Pförtner

Ein Zurück hinter Bad Godesberg wäre für die SPD schon deshalb politischer Selbstmord, weil sie in den vergangenen Jahren in alle politischen Richtungen Stimmen verloren hat – an die Grünen, die Linkspartei, die Union und zu kleinen Teilen auch an die AfD. Umgekehrt gilt: Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie Wählerkoalitionen zwischen der Arbeitnehmerschaft und sozialliberalen Mittelschichten und darüber hinaus mobilisieren konnte. Dies ist auch in einer individualisierten Gesellschaft mit abnehmenden Parteibindungen möglich.

Ein Zurück hinter Bad Godesberg wäre politischer Selbstmord

Umfragen zeigen: Die Mehrheit hat ein sozialdemokratisches Wertekorsett. Quer durch alle Schichten und Altersgruppen werden sozialer Aufstieg und ein Wir-Gefühl als äußerst wichtig angesehen. Und die meisten in Deutschland bekennen sich klar zum deutschen Sozialstaat. Deshalb kann und muss die SPD eine Volkspartei der linken Mitte bleiben.

Als Volkspartei ist es unser Ziel, das Leben möglichst vieler Menschen konkret besser zu machen. Das geht nur in Regierungsverantwortung – und mit der Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Es ist unübersehbar, dass viele in der Partei eine Sehnsucht nach der Opposition haben. Die große Koalition leistet sehr viel, hat aber derzeit keinen besonders guten Ruf. Doch wer glaubt, mit dem Groko- Ausstieg ließe sich die Lage auf einen Schlag verbessern, ignoriert die tieferen Gründe für die Misere der europäischen Sozialdemokratie.

Man verliert als Regierungspartei nicht automatisch an Zustimmung

Hinzu kommt: Es ist kein Automatismus, als Regierungspartei an Zustimmung zu verlieren. Gute Politik gepaart mit programmatischer Klarheit zahlt sich langfristig auch an der Wahlurne aus. Deshalb sollten wir die Koalition nicht aus taktischen Gründen infrage stellen, sondern dafür sorgen, dass sie noch besser arbeitet. Zugleich müssen wir unsere Parteiorganisation und unsere Inhalte erneuern.

Nehmen wir die europapolitischen Ankündigungen im Koalitionsvertrag. Der versprochene Neustart steht weiter aus, obwohl der Reformbedarf in Europa so groß ist wie nie. Bei der Europawahl haben beide Regierungspartner dafür die Quittung erhalten. Hierbei lässt sich auf mehreren Initiativen sozialdemokratischer Regierungsmitglieder aufbauen: Die Pläne von Finanzminister Olaf Scholz, die Bankenunion zu vollenden, sind ein starkes Signal der Solidarität für Europa.

Dasselbe gilt für die Vorschläge von Außenminister Heiko Maas für eine gesamteuropäische Russlandpolitik und den Vorstoß von Arbeitsminister Hubertus Heil, Rahmen für soziale Mindeststandards in den Mitgliedsländern zu entwickeln. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2020 bietet die Gelegenheit, weitere Impulse zu setzen und den Fliehkräften in der EU entgegenzuwirken.

„Europa ist die Antwort“ – dieses Prinzip hat die SPD zu Recht im Koalitionsvertrag verankert und im Europawahlkampf plakatiert. Die wachsende Ungleichheit und die Krisensymptome unserer Demokratie gehen auch darauf zurück, dass nationale Regulierungsinstrumente allein nicht mehr funktionieren. Die entgrenzten Probleme des 21. Jahrhunderts können wir nur als linksprogressive Volks- und Europapartei lösen. Die Parteireformer von 1959 würden heute vermutlich ein „Godesberger Programm für Europa“ fordern.

Rolf Mützenich, Carsten Schneider

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