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Türkische Migranten in Berlin-Kreuzberg in den 1970er Jahren

© picture alliance/dpa

Update

60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: „Gastarbeiter sind Teil der Geschichte dieses Landes“

Das halbe Jahrhundert wurde nicht gefeiert. Jetzt ehrt der Bundespräsident den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Und die Menschen, die kamen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Recht von Migrant:innen auf gleichberechtigte Teilhabe in der deutschen Gesellschaft unterstrichen: „Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht! Nehmen Sie sich den Platz in der Mitte, und füllen Sie ihn aus! Gestalten Sie diese Gesellschaft mit, denn es ist Ihre Gesellschaft!“ sagte Steinmeier in seiner Rede zum Festakt der Türkischen Gemeinde Deutschland (TGD), die am Dienstag den 60. Geburtstag des Deutsch-türkischen Anwerbeabkommens feierte.

Die zweite Generation kam voran - wie die Biontech-Gründer

Das Abkommen, am 30. Oktober 1961 unterzeichnet, war Auftakt zu einer zwölf Jahre andauernden organisierten Arbeitsmigration aus der Türkei in die Bundesrepublik, die mit dem Anwerbestopp von 1973 endete. Der Zuzug danach bestand im wesentlichen aus Familienangehörigen derer, die bereits in Deutschland waren. Heute stellen Menschen mit türkischer Familiengeschichte die größte Einwanderergruppe, 2,75 Míllionen, gefolgt von der polnischen und russischen Minderheit.

Steinmeier erinnerte an den Anteil der ersten Generation am deutschen Wirtschaftswunder und Wiederaufbau und an das, was er sie gekostet hatte - Trennung von Kindern und weiterer Familie, Demütigungen im Anwerbeverfahren und danach. Heute stünden ihre Kinder und Enkel an ihrem Platz. Sie „bauen an diesem Deutschland weiter“ als Künstlerinnen, Unternehmer, Richterinnen und Minister oder Impfstoffentwickler, sagte Steinmeier in Anspielung auf das Mainzer Unternehmen Biontech.

Dessen Gründer Ugur Sahin wuchs als Kind eines Fordarbeiters in Köln auf, seine Frau und Mitgründerin Özlem Türeci ist Tochter eines aus der Türkei eingewanderten Arztes.

Japanisch wird gefördert, Türkisch auf dem Schulhof verboten

Die beiden Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoglu und Atila Karabörklü, sprachen von Stolz und Dankbarkeit als erste Gefühle im Rückblick auf 60 Jahre. „Aber zur Wahrheit unserer gemeinsamen Geschichte gehört auch eine Reihe schmerzhafter Erfahrungen“, sagte Karabörklü und erwähnte Bundeskanzler Helmut Kohl, der Arbeitsmigranten mit einer Rückkehrprämie aus dem Land schicken wollte und dessen Reden von der angeblichen Fremdheit der türkischen Kultur „Vorurteile salonfähig gemacht und struktureller Diskriminierung Zulauf verschafft“ habe.

Aus Nachbarn und Kolleginnen seien so Fremde geworden. Vieles wirke bis heute: „Was würden Sie tun“, fragte Karabörklü ins Publikum, „wenn sogar Japanisch an der Schule gefördert würde, aber Türkisch auf dem Schulhof verboten?“

Steinmeier erinnerte in seiner Rede auch an den nüchtern-unspektakulären Beginn vor 60 Jahren: „Lediglich eine Verbalnote“ habe es gegeben, keine Fotos überliefere einen symbolischen Händedruck. Dies habe gepasst zu einem Abkommen, das „kein Akt der Nächstenliebe oder Zeichen fortschrittlicher Zuwanderungspolitik“ war, sondern Nutzwertüberlegungen folgte: „Deutschland war knapp an Arbeitskräften. Die Optionen lauteten: Wachstumsverzicht oder Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland.“

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Der Bundespräsident wiederholte einen Satz seiner Rede im September, als er bereits ehemalige türkische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und Angehörige der Kinder und Enkelgeneration in seinen Amtssitz Schloss Bellevue eingeladen hatte, auch dies, um das Jubiläum des Anwerbevertrags zu feiern. Nicht sie seien „Menschen mit Migrationshintergrund“, wie das seit 15 Jahren per Statistikgesetz definiert ist: „Sondern Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund geworden. Und es ist höchste Zeit, dass wir uns dazu bekennen.“

Vor zehn Jahren blieb die Party aus

Die Feier in Gegenwart des Bundespräsidenten ist dazu womöglich ein symbolischer Schritt: Noch zum 50. Jahrestag des Abkommens vor zehn Jahren gab es praktisch keine offiziellen Termine, schon gar nicht auf höchster politischer Ebene. Ein Jahr zuvor war Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ erschienen. Das Buch, dem UN-Gremien Rassismus bescheinigten, wurde rasch zum Bestseller und verschärfte den polemischen Ton der Debatte um Migrant:innen, vor allem türkische und arabische, weiter.

Steinmeier nannte die Geschichte der Gastarbeiter:innen jetzt „einen integralen Teil der Geschichte dieser Republik“. Sie verdiene „einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur; eine Randnotiz wird ihrem Beitrag für unser Land nicht gerecht“. Erst wenn ihre Geschichte erzählt werde, „erst dann verstehen wir unser aller Geschichte“.

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