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Kanzler Willy Brandt kniet am 1970 im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau

© DPA/DPAWEB

50 Jahre Studentenrevolte von 1968: Selbst das Private ist hochpolitisch

Hier Familie, dort Gesellschaft? Von wegen! Erinnerungen an eine 68er Kindheit in Düsseldorf.

Am 27. April 1972 war unterrichtsfrei am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Düsseldorf. Wir Schüler, alle, von der Sexta an bis hoch zur Oberprima, wurden in die Aula beordert, wo Fernseher aufgestellt waren. Und auf denen wurde Rainer Barzels Misstrauensvotum gegen Willy Brandt aus dem Bundestag übertragen. Da war ich 16 Jahre alt, aber ich erinnere noch, dass mehrheitlich Jubel ausbrach, als Barzel scheiterte. „Willy! Willy!“, skandierten viele, ich auch, und mancher Lehrer reihte sich ein in den Chor der Erleichterung.

Ist dergleichen heute denkbar? Heute, 50 Jahre nach dem Beginn der Revolte, nach dem Start des Aufbruchs, der ja neben allem anderen auch die Privatisierung des Politischen mit sich brachte. War nicht alles politisch in diesen Zeiten? Noch eine Anekdote aus der Schule, ein Jahr später: Lieblingslehrer Bernhard Hölscher, vom Krieg physisch wie psychisch geschädigt, wertkonservativ, bekennender und aktiver Christ, leidenschaftlicher Orgel- wie auch Volleyballspieler, dieser Lehrer nahm die gegen den Willen seines Trainers durchgesetzte Selbsteinwechslung Günter Netzers beim DFB-Pokalfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln zum Anlass, mit uns Schülern über Ungehorsam zu diskutieren, über den Sinn von Unsinn und Ungehorsam, dessen Erträge und Exzesse.

Netzer hatte das Siegtor erzielt und Deutschlehrer Hölscher sagte, es sei in bestimmten Momenten nahezu Pflicht, eigenverantwortlich zu handeln und sich gegen die herrschenden Meinungen und Verhältnisse zu stellen. Bemerkenswerte Einlassungen eines Pädagogen, zumal in Zeiten, in denen die RAF längst den Aufbruch von ’68 vergewaltigt hatte.

Brandts Kniefall war die Initialzündung für mein Interesse an der Politik

Gute Güte, ’68. Als die Revolte tobte und im Radio übertragen wurde – Fernseher hatten wir zu Hause erst ab 1972 – war ich zwölf Jahre alt. Zu jung, um zu rebellieren, um acht Uhr musste ich ins Bett. Und dennoch, die Zeiten waren politisch, und wir waren politisiert. Ich kannte die Namen aller Spieler meiner Fortuna aus Düsseldorf, aber ich wusste auch, dass in Prag der Frühling niedergewalzt wurde, wir Schüler wussten, wer Alexander Dubcek war, wer Rudi Dutschke, und Willy Brandt kannten wir auch. Mit ihm wurde ich sozialisiert und politisiert. Spätestens sein Kniefall von Warschau 1970 war Initialzündung für mein Interesse an der Politik, für Anteilnahme am Geschehen in der Welt. Was das mit dem Aufbegehren der 68er zu tun hat? Alles. Alles.

Zu Hause wurde wenig bis gar nicht über Politik gesprochen, und erst recht nicht über die Vergangenheit. Die Mutter wollte nichts darüber wissen, wohl auch, weil sie vorgab, nichts mitbekommen zu haben. Der Vater hielt sich auch raus aus den aktuellen Debatten, wählte FDP als „das kleinere Übel", was schon damals kein politisches Statement war, sondern Ausdruck der Unentschlossenheit, der Feigheit. Wir hatten drei Tageszeitungen zu Hause, die „Westdeutsche Zeitung“, die war neutral, die „NRZ“, die war eher sozialdemokratisch, die „Rheinische Post“, journalistisch das beste Blatt, aber schwer konservativ. Wie konnte da das Politische nicht privat werden?

Hosen für Frauen? Ein riesiger Schritt

Die Schwester, drei Jahre älter, machte praktische Politik zu Hause und auch Frauenbewegung, im Gegensatz zu den realen Verhältnissen in der 68er Zeiten. Die Mutter war von eher stämmiger, sehr stämmiger Figur. Und als selbst der Kleidungsstil sich hin zum politischen Statement wandte, wurde sie überzeugt, dass auch stämmige Frauen Hosen tragen können, nicht nur fettleibige Männer. Eine Petitesse im Gesamtvolumen der 68er Folgen, ein riesiger Schritt für die Mutter.

Und als sie – wir Kinder inzwischen flügge, wie man sagte – wieder arbeiten wollte bei der Auslandsauskunft der Post, kämpften wir einen heroischen Kampf gegen den Vater, der das als emanzipatorischen Unfug abtat. Die Mutter ging dann wieder zur Arbeit, heute eine Selbstverständlichkeit, damals fast eine revolutionäre Umwälzung.

Die Schlachten waren schon alle geschlagen

Dabei mussten wir Nachgeborenen, wir jüngeren Geschwister der Rebellion, gar nicht mehr kämpfen. Die Schlachten waren geschlagen, die Veränderung der Gesellschaft in die Wege geleitet. Unsere Rebellion bestand im Schwänzen des Mathe-Leistungskurses, währenddessen wir lieber Doppelkopf im Aufenthaltsraum spielten. Auch diese Rebellion traf niemanden, der Lehrer gesellte sich zu uns und schimpfte allenfalls über eine vermeintlich falsch ausgespielte Karte. Wir wussten, dass die harten Drogen lebensgefährlich sind, wohingegen die weichen mit Vergnügen im nahen Holland gekauft werden konnten. Und was die freie Liebe war, zumindest in der Theorie, hatten uns die älteren Geschwister eingeimpft.

Was das alles mit Politik zu tun hat, mit gesellschaftlicher Veränderung? Alles! Man kann diesen rundum politisierten Zeiten vieles vorwerfen, Verkopfung, unrealistische Ideologie, oder wie es heute heißt: Gutmenschlichkeit. Ich, kleiner Bruder der Revolte, bin im Großen und Ganzen recht zufrieden mit den Veränderungen. Habt ihr ganz gut gemacht, damals mit der Privatisierung des Politischen.

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