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50 Jahre Studentenrevolte 1968: '68 spaltet Deutschland noch immer

Noch ein halbes Jahrhundert später entzünden sich an ’68 hitzige Debatten. Warum eigentlich –  und zu Recht?

So viel ’68 war nie. So viel Kontroverse um ’68 war immer. Dass mit 50 Jahren Abstand Ereignisse reflektiert werden, gehört zur Normalität. Dass jedoch Zeit keine Wunden heilt, eine Jahreszahl immer noch hitzige Debatten auslöst, ist nach so langer Zeit ganz und gar ungewöhnlich.

Bei ’68 geht der Riss immer noch quer durch die Gesellschaft. Die Spannbreite der Urteile reicht von maßloser Selbstüberschätzung, dem sich Schmücken mit den fremden Federn einer bereits laufenden gesellschaftlichen Umwälzung, bis zum Erhöhen als endgültige Beendigung des deutschen Obrigkeitsstaates, als „soziokulturelle Neugründung“ (Gerd Koenen) der Republik. Paradoxerweise haben diejenigen, die der Studentenbewegung jede Relevanz absprechen, in der Folge am lautesten nach einer „geistig-moralischen Wende“ zurück in die Vor-68er Jahre gerufen. Eine Wende, die Helmut Kohl zwar postulierte, aber nie ernsthaft in Angriff nahm.

Weil dies so ist, weil man, selber als Prototyp des 68ers geltend, zwangsläufig auch in einem jahrzehntelangen Rechtfertigungsprozess steckte, fällt die erbetene Fehler-Diskussion schwer und gerät die Auseinandersetzung sicher nicht objektiv, insbesondere über die Frage, ob die vielen Irrwege der Folgezeit, Militanz auf der Straße, Terrorismus, Stalinismus der K-Gruppen, ob dies alles in 1968 wurzelt.

1968 und der Terrorismus

Wenn sich eine Gruppierung „Bewegung 2. Juni“ nennt und Berlins obersten Richter, den Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann, erschießt, kann man schlecht behaupten, dies habe nichts mit dem 2. Juni 1967 zu tun. Dies wäre so überzeugend wie die oft gehörte These, der islamistische Terror habe nichts mit dem Islam zu tun, dieser sei doch die Religion der Friedfertigen. Aber ebenso falsch ist es, nicht zu realisieren, dass von den Studentenbewegten nur eine Zahl im Promillebereich den Weg in den Terror nahm.

Bedenklicher ist allerdings, dass es um RAF und andere Gruppierungen ein indifferentes Umfeld gab, das in ihnen immer noch Genossen auf einem falschen Weg, aber mit dem richtigen Feind sah. Die mediale Sympathisantenhatz, die noch nicht einmal Heinrich Böll ausschloss, behinderte zusätzlich Abgrenzungs- und Differenzierungsprozesse. Wo sie stattfanden, wie etwa in der Göttinger Mescalero-Erklärung, wurden sie nicht verstanden, sondern riefen wegen der zunächst geäußerten „klammheimlichen Freude" über das Buback-Attentat die Justiz auf den Plan.

Nur, warum kam diese Freude überhaupt auf? Das „Wir gegen die“ ist sicher als Folge von ’68 entstanden. Die Studentenbewegung brachte auch Intoleranz und Militanz mit sich, insbesondere an den Hochschulen: „Liberale aus dem Saale“. Einer der geistigen Väter der Studentenbewegung, Herbert Marcuse, hat sich im Audimax der FU dagegen gewandt, dass seine Analyse der repressiven Toleranz als Absage an jegliche Toleranz zu verstehen sei. Bei der Gewaltfrage an sich wird seit 50 Jahren eine Henne-Ei-Diskussion geführt. Teile des SDS wollten durch Provokationen die „faschistische Fratze des Staates“ sichtbar machen. Mit dem gewalttätigen Gesicht gelang dies überzeugend, vor allem am 2. Juni.

Die massive Gewalt, zunächst von staatlicher Seite, hat in fataler Gegenreaktion vorhandenen gewalttätigen Potentialen zum Durchbruch verholfen. Dem Dutschke-Attentat war eine Pogromstimmung vorausgegangen. Als zu dem Ohnmachtsgefühl, jederzeit niedergeknüppelt und erschossen zu werden, auch noch die Furcht trat, den damals aktivsten Apo-Anwalt Horst Mahler zu verlieren, schlug diese Ohnmacht in der Schlacht am Tegeler Weg in einen Himmel voller Steine um.

Fazit: Es gibt sicher keine zwangsläufige Linie vom Farbei zur Maschinenpistole. Wo der Weg beschritten wurde, war staatliche Gewalt die Geburtshelferin.

1968 und der Osten

„Geht doch nach drüben“, war der Standardzuruf bei jeder Demonstration. Die Antwort: „Da kommen wir doch her“, stimmte für einige und war ansonsten ironisch gemeint. Weder „Lasst den Kuchen, lasst die Sahne, nehmt Euch eine rote Fahne“ vermochte zu überzeugen, noch die Aufforderung „Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong“. Gerade in West-Berlin hatte der Zug der Demonstranten mit „Ho-Chi-Minh-Hop im Bersaglieri-Schritt“ (FAZ) zum Teil Züge eines anachronistischen Theaters. 20 Jahre war die Berlin-Blockade her, zehn das Chruschtschow-Ultimatum, der Mauerbau sieben. Für Zwanzigjährige eine halbe Ewigkeit, für die Berliner nicht.

Die antiautoritäre Bewegung wurde nie aus dem Osten gesteuert. Entsprechende Jubelmeldungen in Stasi-Akten sollten nicht für bare Münze genommen werden. Ihre Aktionsformen mit Sit- in, Go-in, Teach-In stammten aus Berkeley und anderen US-Universitäten, ihr „We Shall Overcome“ aus der dortigen Bürgerrechtsbewegung. Ihre Solidarität galt den streikenden Studenten in Warschau und Moskau und nicht zuletzt dem Prager Frühling. Dennoch wurde sie das Stigma der fünften Kolonne des Ostens nicht los. Dafür sorgten auch wirre Revolutionstheorien und die Bild-Ikonographie von Che bis Rosa.

1968 und der Westen

„Ihr habt, befangen in eurem Antiimperialismus, den Wert der europäischen Einigung nicht gesehen.“ So lautet ein verbreiteter Vorwurf. Europa war zu dieser Zeit West-Europa, mit Franco in Spanien, Salazar in Portugal, den Obristen in Griechenland und einem bevorstehenden Militärputsch in Italien. „Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muss weg“, war eine daraus geborene Parole. Ja, die Apo war antikapitalistisch, ihr Kern und Motor war schließlich der aus der SPD ausgeschlossene Studentenbund SDS, der gegen das Godesberger Programm am Sozialismus festhielt.

Auch nachdem der reale Sozialismus im Ostblock implodierte und China staatskapitalistische Supermacht wurde, wird gerade heute die Frage nach dem Endzustand der Gesellschaft wieder aufgerufen. Herrschen globale IT- und andere Monopole über den Staat, oder kann dieser noch die Regeln und Bedingungen bestimmen? Nur zur Erinnerung: Die für den Steuerzahler milliardenschwere Bankenrettung wurde nachts am Telefon zwischen Kanzlerin Merkel und dem Chef der Deutschen Bank, Ackermann, ausgedealt, bevor in Tokio die Börse eröffnete. Politik als Getriebene der Kapitalmärkte, keine Horrorvision von Marx, sondern Realität.

1968 und kein Ende

Nein, die Apo war nicht antiamerikanisch. Die Vehemenz der Vietnamproteste war auch Ausdruck enttäuschter Liebe. Die „Kinder von Marx und Coca-Cola“ (Godard) ertrugen nicht den Anblick der toten Kinder von My-Lai.

Dies alles entschuldigt nicht einen Kardinalfehler, den die französischen postkommunistischen Intellektuellen so zuspitzen: Die Linke hat die Dimension der Freiheit nicht begriffen. Hinzuzufügen ist: auch nicht die Dimension der Menschen- und Bürgerrechte. Sie wurden viel zu oft als bloße Tarnung zur Durchsetzung ökonomischer und imperialer Interessen gesehen.

Ein Fehler, der sich hinzieht bis zu Äußerungen von Altbundeskanzlern über fehlende kulturelle Tradition der Menschenrechte in China oder lupenreine Demokraten in Russland. Allein, dieser Fehler lässt sich korrigieren. Es ist nie zu spät, gerade in Zeiten von Orban, Erdogan, Putin, Xi oder Trump, für Freiheit und Recht einzutreten. Nur in diesem Sinne gilt: Der Kampf geht weiter.

Der Autor war für Bündnis90/Die Grünen Bundestagsabgeordneter und Berliner Justizsenator

Wolfgang Wieland

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