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Blick in den Fundus der Stasiunterlagenbehörde (Archivbild von 2015)

© dpa/Lukas Schulze

30 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz: Ein ehrlicher Blick aufs Gestern hilft gegen Legenden im Heute

Wie die Erinnerung an vergangenes Unrecht gegen künftiges immunisieren kann. Ein Kommentar – auch zum Verbot von „Memorial“ in Russland.

Ein Kommentar von Robert Ide

Geschichte lebt weiter, weil Menschen frei denken. Oder wie Andrej Sacharow sagte: „Die Freiheit des Denkens ist die Garantie gegen die Infektion des Volkes durch Massenlegenden.“ Für den sowjetischen Friedensnobelpreisträger gehörte zur geistigen Freiheit die ehrliche Debatte über die eigene, im Zweifel unfreie Geschichte. Ohne Gestern geschieht kein Heute, wächst kein Morgen.

In der Sowjetunion gründete Sacharow das Zentrum „Memorial“, das über stalinistische Verbrechen aufklärte; heute Russlands größte Menschenrechtsorganisation. Drei Jahrzehnte ist das her. Jetzt wurde „Memorial“ von höchster Stelle verboten, weil die schmerzhafte Erinnerung ans sowjetische Gestern das heutige Selbstbild des Kreml stört, von dem aus Präsident Putin nicht erst morgen eine lupenreine Diktatur errichtet. Die Freiheit des Denkens soll eingesperrt werden.

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In Deutschland gehört Aufarbeitung kommunistischer Geschichte längst zur Gegenwart. Verschwindet aber schleichend. Weltweit einmalig wurden nach Volkes Sturm auf die Zentralen der DDR-Staatssicherheit die Akten der Geheimpolizei geöffnet. Drei Jahrzehnte ist das her: Am 29. Dezember 1991 trat trotz westdeutschen Widerstands das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft, eines von wenigen Einheits- Erbstücken des Ostens.

Seelische Zersetzung unter Kindern

Es ermöglichte Aufklärung über Amtsträger, die sich ohne ehrlichen Blick auf ihre Vergangenheit an Schaltstellen der Demokratie mogeln wollten. Es zeigte schlimmste Geschichten von Verrat in Familien und unter Freunden, Verrat, der im Stasi-Knast endete; von seelischer Zersetzung gar von Kindern. Aber die Stasi-Debatte lenkte auch ab – von Millionen, die in der SED aktiv auf Staatsparteilinie mitgelaufen waren.

Trotz mancher Einengung öffneten die offenen Akten den Blick auf uns selbst, auf das Verhalten von Menschen in Diktaturen – auch auf ihren Widerstand. Und der Umgang öffentlicher Personen mit ihrem Gestern (zu sehen etwa beim zurückgetretenen Berliner Staatssekretär Andrej Holm oder dem „Berliner Zeitung“-Verleger Holger Friedrich) verriet viel über sie im Heute. Die Stasi-Akten hatten nicht immer alle Antworten. Aber sie bleiben offene Fragen an uns selbst.

Weltweit wurde Deutschland für die geistige Freiheit im Umgang mit der Geschichte bewundert. Umso erstaunlicher, dass die Erfolgsgeschichte der Erinnerung nun im Bundesarchiv eingelagert wurde. Hier bleiben die Akten zwar offen und werden hoffentlich gut digitalisiert, geraten aber in öffentliche Vergessenheit. Die frühere Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg dümpelt (abgesehen vom beliebten Sommer-Geschichtskino) vor sich hin.

Das Gestern sollte uns wichtiger bleiben. Denn auch heute ist das Volk nicht immun gegen die Infektion durch Massenlegenden – selbst wenn es eine Diktatur erlebt hat.

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