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Zerstörung in Kabul in Afghanistan.

© imago images/Xinhua

27 Kinder getötet, Bevölkerung auf der Flucht: Taliban erobern sechste Provinzhauptstadt binnen vier Tagen in Afghanistan

Die Taliban weiten mit Angriffen ihren Einfluss in Afghanistan aus. Das Bundesverteidigungsministerium schließt einen weiteren Einsatz aus.

Die radikalislamischen Taliban haben am Montag die sechste afghanische Provinzhauptstadt binnen weniger Tage erobert. Die Miliz habe nunmehr die "volle Kontrolle" über Aibak in der nordafghanischen Provinz Samangan, sagte Vize-Gouverneur Sefatullah Samangani der Nachrichtenagentur AFP. Die Islamisten rückten laut einem Taliban-Sprecher zudem auf Masar-i-Scharif vor, den langjährigen Stützpunkt der Bundeswehr und der größten Stadt im Norden Afghanistans.

Seit Freitag haben die Taliban insgesamt sechs Provinzhauptstädte erobert. Ihr größter militärischer Erfolg war am Sonntag die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Kundus, die ebenfalls lange Zeit Bundeswehrstandort war. Seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai hat die Miliz bereits weite Teile des Landes eingenommen.

Am Montag zogen sie auch kampflos in die Stadt Aibak ein. Die Stammesältesten hätten die Behörden nach den wochenlangen Gefechten in den Randbezirken der Stadt gebeten, weitere Gewalt zu verhindern, erklärte Vize-Gouverneur Samangani. "Der Gouverneur hat das akzeptiert und alle Truppen aus der Stadt abgezogen." Ein Taliban-Sprecher bestätigte die Einnahme der Stadt.

Sollten die Taliban auch die wirtschaftlich bedeutsame Stadt Masar-i-Scharif, Hauptstadt der Provinz Balch, einnehmen, wäre dies ein harter Schlag für die Regierung. Damit würde Kabul die Kontrolle über den Norden des Landes endgültig verlieren.

In Masar-i-Scharif befand sich während des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan das größte Feldlager der Bundeswehr. Erst Ende Juni waren die letzten Bundeswehrsoldaten von dort nach Deutschland zurückgekehrt.

Das Bundesverteidigungsministerium in Berlin wies am Montag Überlegungen zu einem neuen Bundeswehreinsatz in Afghanistan zurück. Es sei "nicht erkennbar", dass es dafür eine politische Mehrheit in Deutschland gebe, sagte Ministeriumssprecher Arne Collatz am Montag in Berlin. "Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass wir einen Monat nach dem Abzug der deutschen Kräfte darüber nachdenken sollten, wieder in einen Kampfeinsatz dort hineinzugehen."

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) zeigte sich bestürzt über den Vormarsch der Taliban. Die Meldungen aus Kundus und aus ganz Afghanistan "sind bitter und tun sehr weh", erklärte sie am Montag in Berlin. "Wir haben dort gemeinsam mit den Verbündeten gekämpft, Bundeswehrsoldaten sind in Afghanistan gestorben."

[Mehr zum Thema: Bundeswehr-Abzug aus Afghanistan: Mahmoud half den Deutschen, die Taliban wollen ihn ermorden (T+)]

Auch im Süden des Landes lieferten sich die Taliban heftige Kämpfe mit dem afghanischen Militär. Seit Wochen versucht die Miliz dort, Kandahar und Laschkar Gah einzunehmen. "Wir räumen Häuser, Straßen und Gebäude, die von den Taliban besetzt sind", sagte General Sami Sadat von der afghanischen Armee, der mit seinem Korps in Laschkar Gah kämpft.

Hunderte Taliban-Kämpfer wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums in den vergangenen 24 Stunden getötet oder verletzt. Allerdings übertreiben beide Seiten die kaum überprüfbaren Opferzahlen für gewöhnlich.

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UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rief angesichts steigender Opferzahlen in Afghanistan zum Schutz der Zivilbevölkerung auf. Allein im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden, berichtete er am Montag. "Ich bin wegen der sich verschlechternden Situation extrem besorgt", sagte Griffiths in einer Stellungnahme des UN-Nothilfebüros in Genf.

Griffiths unterstützte die UN-Forderung nach einem Waffenstillstand. Er forderte zudem Sicherheit und Bewegungsfreiheit für Hilfsorganisationen in dem Land.

27 Kinder getötet, 136 Minderjährige verletzt

Nach Unicef-Angaben wurden in den vergangenen drei Tagen mindestens 27 Kinder in den Provinzen Kandahar, Chost und Pakria getötet. 136 weitere Minderjährige seien verletzt worden, teilte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen am Montag mit. "Unicef ist schockiert von der rapiden Eskalation schwerer Verstöße gegen Kinder", erklärte der für Afghanistan zuständige Unicef-Repräsentant Hervé Ludovic De Lys. "Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer."

Vertriebene suchen suchen Zuflucht in einem öffentlichen Park in Kabul.
Vertriebene suchen suchen Zuflucht in einem öffentlichen Park in Kabul.

© dpa/Rahmat Gul/AP/

In der strategisch wichtigen Stadt Kundus starteten afghanischen Kommandoeinheiten einen Gegenangriff gegen die Taliban. Ziel sei, die Aufständischen aus der Provinzhauptstadt zu vertreiben, sagten ein Vertreter der Sicherheitskräfte sowie mehrere Bewohner am Montag. Demnach waren Explosionen und ununterbrochene Schusswechsel zu hören. Zahlreiche Familien, darunter kleine Kinder und Schwangere, flohen vor den Kämpfen aus der im Norden gelegenen Stadt.

Auch vom Rand der im Westen gelegenen Stadt Herat wurden heftige Kämpfe gemeldet. Das südlichen Laschkar Gah wurde nach Angaben von Sicherheitsbeamten von einer lauten Explosion erschüttert.

Es sei das Beste, Kundus zu verlassen, bis feststehe, ob dort künftig die afghanische Regierung oder die Taliban das Sagen hätten, sagte ein Ingenieur, der versuchte, für seine Familie eine Busfahrt zu organisieren. "Vielleicht müssen wir bis Kabul laufen, aber wir wissen nicht, ob wir womöglich unterwegs getötet werden." (dpa, AFP, Reuters, edp)

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