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Am 27. Juni 1989 zertrennten der Ungar Gyula Horn (rechts) und der Österreicher Alois Mock den Grenzzaun.

© Reuters

25 Jahre offene Grenze in Ungarn: Das Loch im Eisernen Vorhang

„Wir wären nie auf die Idee gekommen, in Berlin über die Mauer zu fliehen“, sagen sie. Aber plötzlich gab es diese Lücke im Eisernen Vorhang. Also wagte die Familie Rocke die Flucht Aber seltsam: Ein Glücksgefühl wollte sich nicht einstellen.

Um einen Eisernen Vorhang zu überwinden, so dachte es sich Jochen Rocke, würden er und seine Familie Werkzeug brauchen. Ein Bolzenschneider zum Beispiel wäre nicht schlecht – zum Stacheldrahtdurchschneiden. Also besorgte er sich einen, aus dem Werkzeuglager des VEB Baureparaturen Berlin-Mitte, in dem Rocke als Bauleiter arbeitete. Er hat nicht ahnen können, wie absurd und dennoch richtig dieser Gedanke war.

„Hätten wir es besser gewusst“, sagt er heute, „hätten wir das Ding vielleicht nicht mitgenommen. Und dann hätte es vielleicht nicht geklappt.“

Sie haben es aber nicht besser gewusst. Sie hatten den Bolzenschneider dabei, genauso wie ihren Überdruss am Sozialismus, unklare Vorstellungen von der Freiheit im Westen und 200 gegen Ostgeld eingetauschte D-Mark. Nicht im Gepäck war das Bewusstsein dafür, dass das Grenzzaun-Überwinden zu jener Zeit noch etwas ganz anderes als Geld kosten würde. Dass man mit dem Stacheldraht auch Freundschaften zerschnitt, Verwandtschaftsverhältnisse, Lebenslinien, dass man sein Zuhause preisgab. Und dass man anschließend umso dringender darauf angewiesen war, auf Menschen zu stoßen, die es gut mit einem meinen.

Auch das wissen die Rockes nun besser. Folglich sind sie heute, ein Vierteljahrhundert später, zu Botschaftern dieser Erkenntnis geworden.

„Freiheit zu haben, Rechte, das ersetzt menschliche Beziehungen nicht“, sagt Rocke. Es ist die Widerlegung des Gassenhauers, dass es kein gutes Leben im schlechten gebe. Rocke sitzt mit seiner Frau auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer in Berlin-Reinickendorf. Vor ihnen auf dem Couchtisch ist Fußball-WM-Klimbim drapiert. Ein schwarz-rot-goldener Kunststoffschal liegt dort, daneben ein kleiner Plastikfußball. Am Vorabend hat Deutschland gegen Ghana unentschieden gespielt, Rocke hat das nicht besonders gefreut. Er warnt vor seiner Laune, die dementsprechend bestenfalls mittelschlecht sei, was dann aber doch nicht stimmt. Ein aufgeräumtes Ehepaar, Jochen und Barbara, beide Jahrgang 1953, sitzt in einer aufgeräumten Wohnung und berichtet von Ereignissen, die am 27. Juni 1989 ihren Lauf nahmen.

Als Berliner, die im Osten der Stadt lebten, kannten die Rockes die hiesige Mauer sehr gut. Sie kannten die Vorderland- und die Hinterlandmauer, die Patrouillenwege dazwischen, sie hatten von Selbstschussanlagen und einem Schießbefehl gehört und immer wieder von den Menschen, die umkamen, weil sie diese Gegend zwischen Ost und West betreten hatten.

Von der Art und Weise, wie dieser Landstrich zwischen dem sozialistischen Reich der Menschenliebe und der Welt von Ausbeutung und Unmoral jenseits ihrer Heimatstadt aussehen würde, hatten sie kaum eine Ahnung. Sie wussten nur: Ganz so todeseffizient wie hier in Berlin war er wahrscheinlich nicht organisiert. In Ungarn zum Beispiel. Den entscheidenden Hinweis darauf gaben ihnen Fotos und Fernsehberichte von dort. Es ist auf den Tag genau 25 Jahre her.

Die Bilder setzten eine Kettenreaktion in Gang

Bolzenschneider waren damals das Werkzeug der Stunde. Mit ihnen konnte man Weltgeschichte schreiben. Am 27. Juni 1989 bekamen der ungarische und der österreichische Außenminister ein solches Gerät gereicht. Sie hatten sich an der Grenze zwischen den beiden Staaten getroffen, um ein Stück Stacheldraht zu zerschneiden und sich dabei fotografieren zu lassen. Historiker und Zeitzeugen sind sich bis heute uneins darüber, ob es sich bei jenem Stück Draht um eines der letzten verbliebenen Teile der einstigen Grenzsicherungsanlagen zwischen Ungarn und Österreich handelte, oder ob es für diesen Fototermin sogar extra wieder herangeschafft werden musste. Denn Ungarn hatte bereits im April 1989 angekündigt, seine Grenze zu Österreich abzurüsten. Im Mai hatte sich das Land an die Arbeit gemacht und die Zäune demontiert.

Die Weltöffentlichkeit ist von diesen Vorgängen einigermaßen uninformiert geblieben. Es gibt Bilder eines österreichischen Fotografen der Nachrichtenagentur Associated Press, datiert vom 2. Mai, die ungarische Soldaten beim Demontieren des Eisernen Vorhangs zeigen. Nur: Es wurde kaum Notiz davon genommen, was jenen Fotografen naturgemäß ärgerte.

Er hatte aber gute Kontakte zum Wiener Außenministerium, und es gelang ihm, dem dort amtierenden Minister Alois Mock einen Vorschlag zu machen. Wie wäre es, wenn Sie zusammen mit Ihrem ungarischen Kollegen Gyula Horn symbolisch ein bisschen Stacheldraht durchtrennen würden? Mock fand die Idee gut, meldete sich beim ungarischen Botschafter in Wien, der wiederum schrieb nach Budapest. Es dauerte einige Wochen, schließlich sagte dann auch Horn zu. Am 27. Juni war es so weit. Die beiden Minister fuhren mit zwei Bussen voller Journalisten in die Nähe der westungarischen Stadt Sopron. Die Wiener hatten Handschuhe und Bolzenschneider mitgebracht. Draht wurde zerschnitten, die Bilder kamen in die Welt und setzten eine Kettenreaktion in Gang, an deren Ende schließlich die Berliner Mauer fiel.

Eines der Glieder dieser Kette sind die Rockes gewesen. DDR-Bürger, die wie zehntausende andere in diesem 1989er Sommer ihrem Land den Rücken kehrten. Er, Bauleiter eines Betriebes, der auf Schornsteinabriss spezialisiert war, sie Friseurin. Zwei Werktätige, die den Fototermin der Außenminister mitbekamen, sich bei der Berliner Volkspolizei eine Einreiseerlaubnis für Ungarn besorgten und ihren Skoda mit Kleidung, den zwei Kindern und dem Bolzenschneider vollpackten. Am 12. August fuhren sie los.

„Es war eine Möglichkeit, die sich auftat“, sagt Rocke. „Wir wären nie auf die Idee gekommen, hier in Berlin über die Mauer zu fliehen.“ Aber nun gab es Ungarn. Eine Flucht dort im Süden schien praktikabel zu sein. Sie schien verantwortbar. Die Ungarn hatten eine Schwelle gesenkt. Man musste, das war die Vorstellung vieler Ostdeutscher, einfach drübergehen.

Den ersten Fluchtversuch brachen sie ab. Der Mond schien zu hell

Auch im späten Frühling dieses Jahres sitzt das Ehepaar Rocke an einem Tisch. Es ist diesmal der eines Restaurants in der ostösterreichischen Stadt Rust, nahe der Grenze zu Ungarn. Um die beiden herum sind Journalisten platziert worden. Der Tourismusverband des Bundeslandes Burgenland hat eingeladen, die Rockes sollen ihre Geschichte erzählen, und die Presse soll zuhören. Der Verband verspricht sich ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit davon, für die Gegend hier und für die Dinge, die sich vor 25 Jahren zugetragen haben. Die Begegnung mit den Rockes ist also, wenn man so will, genauso staatlicherseits organisiert wie einst das Außenministerfoto.

Jochen und Barbara Rocke tun sich schwer mit ihrer Rolle als Vortragsreisende in eigener Sache. Aber weil sie sich nun einmal dazu entschlossen haben, erzählen sie. Anfangs stockend, dann immer flüssiger, immer privater. Vom ersten, wegen einer zu hellen Mondnacht abgebrochenen Fluchtversuch am 16. August. Vom zweiten in der Nacht darauf, als sie von ungarischen Grenzsoldaten aufgegriffen und in eine Kaserne gebracht wurden. Vom Tee und den belegten Broten, die es dort gab. Sie berichten von ihrem tags zuvor am Straßenrand abgestellten und mittlerweile ausgeraubten Auto. Und dann von der dritten Nacht. Ein Wald, eine Anhöhe, eine Kiefernschonung, zwei mit dem Bolzenschneider durchschnittene Stacheldrähte – es müssen einige der letzten Reste der ungarischen Grenzbefestigung gewesen sein –, und dann war da ein in der Dunkelheit leuchtender weißer Grenzstein.

Rocke sagt, er habe seine Familie angewiesen, still hocken zu bleiben, er selber würde vorangehen und nachschauen, was auf diesem Grenzstein stehe, ob er ungarisch oder deutsch beschriftet sei. Er lief einen Abhang hinunter, und als er sich bis auf ungefähr 20 Meter genähert hatte, fing der Grenzstein an zu sprechen. „Alles in Ordnung, ihr seid in Österreich, ihr könnt herkommen.“

Der Grenzstein hieß Martin Kanitsch. Er war ein Österreicher aus dem nahen Dorf Mörbisch, ganz in Weiß gekleidet, damit die DDR-Flüchtlinge, die in diesen Sommertagen schon massenhaft über die Grenze kamen, ihn in der Dunkelheit besser ausmachen konnten. Kanitsch hatte sich von der Arbeit freistellen lassen, er war Willkommenheißer in jenen Nächten, Wegweiser, Fahrer. Er tauchte auf Zeltplätzen auf der ungarischen Seite auf und gab den Ostdeutschen Hinweise, an welcher Stelle ein Grenzdurchbruch am erfolgversprechendsten war. Mehreren 100 Ostdeutschen hat er auf diese Weise geholfen. Als er vor sechs Jahren begraben worden ist, waren die Mörbischer Dorfstraßen voller Menschen. Jochen Rocke war damals dabei. Er sah den riesigen Auflauf, er war gerührt. Er beschloss, fortan bei jeder sich bietenden Gelegenheit an diesen Mann und seine Witwe und an das für ihn und seine Familie so tröstliche Verhalten der beiden zu erinnern.

Ständig brachte er Flüchtlinge mit

Berthilde Kanitsch sitzt mit am Tisch. 25 Flüchtlinge hatte das Paar bei sich zu Hause aufgenommen, „das war fast schon wie eine Sucht bei meinem Mann“, sagt sie. Ständig sei er mitten in der Nacht heimgekommen, habe „mach auf, ich hab noch welche“ gerufen, einmal sollen auf seinem Traktoranhänger 40 Leute gesessen haben.

„Das müssen Sie sich mal vorstellen“, sagt Rocke. „Da bekommen Sie jahrzehntelang eingetrichtert, dass der Westen kalt sei, Ellenbogengesellschaft und so. Und dann treffen Sie als allerersten Menschen jemanden wie Martin.“ Es sei eine der erstaunlichsten Erfahrungen seines Lebens gewesen, sagt Rocke. Genauso erstaunlich wie die Tatsache, dass sich in den Tagen und Wochen nach ihrer Flucht kein Glücksgefühl einstellen wollte.

Am Morgen danach fuhr sie ein Bus nach Wien, in der dortigen deutschen Botschaft gab es provisorische Pässe und etwas Geld. Mit der Bahn ging es weiter nach Gießen, ins dortige Notaufnahmelager. Der Zug war voller Ostdeutscher, „und keiner“, sagt Rocke, „wirklich kein Einziger von denen wirkte glücklich. Alle waren sehr ruhig, sehr nachdenklich.“ So wie sie selbst.

Ein Zug voller Menschen, die ihr Leben gerade komplett geändert hatten. Menschen, die anfingen zu merken, dass so etwas Folgen hat, die zwar naheliegend waren, aber vielen von ihnen dennoch bislang nicht bewusst genug. Leichtfertig sind die wenigsten von ihnen gewesen. Aber es schien einen wesentlichen Unterschied zu machen, ob man sich die Konsequenzen des eigenen Handelns vorher ausmalte oder mitten in ihnen drinsteckte. Sie haben andere zurückgelassen, Eltern, Geschwister, Freunde. Oft, ohne sich von ihnen zu verabschieden.

„Das war die Stimmung damals“, sagt Rocke. Er selbst sei noch Wochen später davon überzeugt gewesen, die Flucht sei richtig gewesen. „Aber nach zwei Monaten war ich mir sicher: Es war falsch. Man hat nicht bedacht, dass man alles, wirklich alles hinter sich abschneidet. Und dass das etwas wiegt.“

Gießen war überfüllt, also mussten die Rockes in ein anderes Lager bei Münster, bis sie schließlich am 25. August in West-Berlin ankamen. Sie siedelten sich im Stadtteil Steglitz an, zehn Kilometer Luftlinie von ihrer einstigen Wohnung in der Prenzlauer Allee entfernt.

Mit dem Wissen von heute mutet diese Flucht wie ein zur Unzeit und ganz besonders umständlich organisierter Umzug vom einen Berliner Bezirk in den anderen an. Nicht einmal drei Monate später gingen auch in der Heimatstadt der Rockes die Grenzen auf, um von Prenzlauer Berg nach Steglitz zu kommen, musste man nur noch in die U-Bahn steigen. „Ja, besonders ökonomisch war das nicht“, sagt Rocke.

Es war auch gefährlich. Die Schwelle, die der Familie Rocke so niedrig erschien, dass sie sich nur deshalb zur Flucht aus der DDR entschloss, kostete andere immer noch das Leben. Am 21. August wurde an der österreichisch-ungarischen Grenze der 36 Jahre alte Kurt-Werner Schulz aus Weimar erschossen. Er ist das letzte Todesopfer des Eisernen Vorhangs.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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